Ketzer
der Wind schrill in meinen Ohren und fegte über das Dach des Turms. Auf der anderen Seite der Plattform hielt Jerome Sophia erneut das Messer an die Kehle. Sein Haar peitschte über ihr Gesicht, sein Blick heftete sich auf Thomas.
»Komm schon, Thomas«, forderte er ihn heraus. »Du willst sie doch retten, oder?«
Thomas zögerte einen Moment, dann sah ich, wie sich sein Körper anspannte, während er abschätzte, wie schnell er sich im Vergleich zu Jerome bewegen konnte. Sophia wimmerte leise. Ihre Augen wanderten von Thomas zu mir und dann zu dem Mann, dessen Arme sie umschlangen – nicht zum ersten Mal, aber jetzt mit ganz anderer Absicht. Ihr verwirrter, entsetzter Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie nicht wusste, ob Jerome es ernst meinte oder nur schauspielerte, um Thomas in die Falle zu locken. Ich streckte eine Hand aus, um den jungen Mann zurückzuhalten, doch in diesem Moment fasste er einen Entschluss, stürzte sich auf seinen früheren Herrn und warf sich mit voller Wucht gegen ihn. Jerome stieß Sophia zu Boden und stach mit dem Messer nach Thomas, doch dieser wich geschickt aus und packte Jeromes erhobenen Arm. Einen Moment bildeten ihre beiden vor Anstrengung zitternden Arme einen Bogen in der Luft, das Messer blitzte silbern auf, dann rammte Thomas Jerome ein Knie in den Unterleib. Der Priester rang nach Atem und krümmte sich, die Anspannung in seinem Arm ließ einen Augenblick nach, was Thomas dazu nutzte, ihn fest ins Handgelenk zu beißen, sodass er das Messer fallen ließ. Doch ehe Thomas es aufheben konnte, krallte Jerome die Finger in sein Haar, riss seinen Kopf zurück und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht.
Ein Blutschwall schoss aus Thomas’ Nase. Er versuchte zurückzuschlagen, doch Jerome schmetterte ihm erneut die Faust gegen das Kinn, woraufhin Thomas gefährlich nah an die Brustwehr zurückgeschleudert wurde.
Sophia hatte sich an die schützende Mauer gerollt. Ich kauerte mich neben sie und nickte zum Treppenhaus hinüber, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf. Ihre Augen waren glasig vor Furcht und doch unverwandt auf den Kampf auf Leben und Tod vor uns gerichtet. Langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, zog ich Jeromes Messer zu mir heran, ohne die Kämpfenden aus den Augen zu lassen. Thomas, der jetzt übel zugerichtet war und blutete, bot seine letzte Kraft auf und schloss eine Hand um Jeromes Hals. Das Gesicht des Priesters verzerrte sich vor Wut, er ließ Thomas’ Haar los und krallte beide Hände um die Kehle des jungen Mannes. Die beiden Gegner begannen einen seltsamen, intimen Tanz zu vollführen, einer folgte den Schritten des anderen, beide würgten und keuchten mit zusammengebissenen Zähnen, und ihre Gesichter liefen rot an. Endlich gelang es Jerome, der stärker und schwerer war, Thomas in eine Lücke zwischen den Zinnen zu drängen. Thomas spürte die Mauer in seinem Rücken und verstärkte seinen Griff um Jeromes Hals, doch Jerome setzte jetzt sein ganzes Gewicht ein, um Thomas in die Lücke zu stoßen. Einen Moment lang dachte ich, beide würden gemeinsam in den Tod stürzen. Doch plötzlich sprang Sophia auf. Ehe ich begriff, was sie vorhatte, entriss sie mir Jeromes Messer, rannte auf die Kämpfenden zu und stach ein Mal kräftig in Thomas’ rechte Hand, mit der er noch immer Jeromes Hals umklammerte.
Thomas schrie auf und lockerte unfreiwillig seinen Griff. Im selben Moment ließ Jerome seinerseits Thomas’ Kehle los, stemmte sich gegen die Brüstung und versetzte seinem Gegner einen heftigen Stoß gegen die Brust. Thomas stieß einen gellenden Schrei aus, seine Hände griffen einen Augenblick ins Leere, dann taumelte er zurück und verschwand aus unserem Blickfeld. Sein letzter Schrei verhallte, als er in die Tiefe stürzte und
dumpf auf dem Boden aufschlug. Ich hätte mich gern über die Brüstung gebeugt und nach unten gespäht, wahrte aber Abstand zu der Brustwehr, da ich Angst hatte, Jerome den Rücken zuzukehren. Sophia brach schluchzend in seinen Armen zusammen und begann am ganzen Leib zu zittern. Er entwand ihr sanft das Messer, stützte sein Kinn auf ihren Scheitel und atmete hastig und abgehackt. Dann sah er mich an. Die Wut war aus seinem Gesicht gewichen und hatte abgrundtiefer Erschöpfung Platz gemacht. Dann rieb er sich die Kehle und verdrehte den Hals, um die Schmerzen zu lindern.
»Es musste früher oder später so kommen«, krächzte er nahezu unhörbar. »Er hätte irgendwann alles herausgefunden, und dann hätte er mich
Weitere Kostenlose Bücher