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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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schäbig gekleidet war. Sein Hemd und seine Hosen waren geflickt, seine Schuhe abgewetzt und an den Zehen durchlöchert. Er blickte ängstlich von mir zum Rektor, dann stieß er atemlos hervor:
    »Doktor Underhill, ist das Euer geschätzter Besucher vom Hof? Bitte lasst mich kurz mit ihm sprechen.«
    »Thomas!« Der Rektor schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das ist jetzt weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort. Sei so gut und lege vor unserem Gast ein etwas schicklicheres Benehmen an den Tag!«
    Zu meiner Überraschung drehte sich der Junge daraufhin zu mir um, fiel auf dem nassen Boden auf die Knie, umklammerte mit einer Hand den Saum meines Umhangs und presste mir mit der anderen das Stück Papier zwischen die Finger.
    »Mylord, ich flehe Euch an, habt Mitleid mit einem, den Gott vergessen hat! Übergebt diesen Brief Eurem Onkel und bittet ihn, meinen armen Vater zu begnadigen und ihn zurückkehren zu lassen. Bitte, Mylord – wenn Ihr nur einen Funken christlicher Nächstenliebe in Euch habt, gewährt mir diese Gunst. Nehmt Euch seiner an und sagt dem Earl, dass Edmund Allen seine Sünden bereut.«
    Seine Augen flackerten wild, und seine offenkundige Qual rührte mich. Da mir klar war, dass es sich hier um ein Missverständnis handeln musste, legte ich ihm sanft eine Hand auf den Kopf.

    »Sohn, ich würde dir ja gerne helfen, aber mein Onkel war ein Steinmetz in Neapel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dir von großem Nutzen sein würde. Komm.« Ich nahm seine Hand und half ihm auf.
    »Aber …« Jetzt schien ihm mein Akzent aufzufallen, er zuckte zusammen, lief hochrot an und musterte mich peinlich berührt. »Ich bitte um Verzeihung, Mylord. Ihr seid nicht Sir Philip Sidney?«
    »O nein«, entgegnete ich. »Aber es schmeichelt mir, dass du mich mit ihm verwechselt hast – er ist einen halben Fuß größer und sechs Jahre jünger als ich. Doch ich werde ihn morgen höchstwahrscheinlich sehen – soll ich ihm vielleicht etwas ausrichten?«
    »Danke, Doktor Bruno, das ist sehr freundlich, wird aber nicht nötig sein. Hier handelt es sich lediglich um eine dreiste Aufdringlichkeit«, mischte sich der Rektor schroff ein. Dann wandte er sich mit mühsam unterdrückter Wut an den Jungen. »Thomas Allen, achte auf deine Manieren. Ich dulde nicht, dass du Gäste der Universität belästigst. Musst du schon wieder bestraft werden? Vergiss nicht, dass dein Stuhl hier bereits auf sehr wackeligen Füßen steht! Und jetzt befasse dich wieder mit deinen Studien, Master Allen – oder mit deinen Dienerpflichten. Du wirst Doktor Bruno während seines Aufenthalts hier nicht noch einmal zu nahe treten, hast du mich verstanden?«
    Der Junge nickte bedrückt, dann schielte er zu mir empor, um zu sehen, ob ich mit dem Rektor einer Meinung wäre. Ich versuchte, mir mein Mitgefühl nicht anmerken zu lassen.
    »Und kleide dich etwas sorgfältiger«, rief der Rektor ihm nach, als er betreten davonschlich. »Du machst der Universität Schande, wenn du wie ein Bettler herumläufst.«
    Bei diesen Worten drehte sich der Junge noch einmal um und bot seinen letzten Rest an Würde auf, über den er noch verfügte, als er hoch erhobenen Hauptes erwiderte: »Ich kann mir keine neuen Kleider kaufen, Rektor Underhill, und Ihr wisst ganz genau, warum nicht, also werft mir nicht etwas vor, wofür ich
nichts kann.« Dann verschwand er in einem Treppenhaus auf der Westseite.
    Der Rektor sah ihm einen Moment lang nach. Vielleicht schämte er sich seiner eigenen Strenge.
    »Der arme Junge«, meinte er schließlich kopfschüttelnd.
    »Wieso arm?«, fragte ich neugierig. »Wer ist er denn?«
    »Kommt mit ins Treppenhaus, damit wir nicht noch weiter vom Regen durchweicht werden.« Er deutete auf den letzten Torbogen der südlichen Gebäudereihe. Nachdem wir dort Schutz gefunden hatten, fuhr er fort: »Es ist eine traurige Geschichte. Er ist noch so jung und hat doch schon so viel gelitten. Es tut mir leid, dass er Euch behelligt hat.«
    Ich winkte ab, denn der Junge interessierte mich. »Sein Name ist Thomas Allen. Sein Vater, Doktor Edmund Allen, war hier in Oxford Doktor der Theologie und letztes Jahr mein Stellvertreter.«
    »Ist es allen Fellows gestattet, mit ihren Familien zusammenzuleben?« , fragte ich erstaunt.
    »Nur den Universitätsleitern. Edmund war fortgezogen und in einer der Londoner Kirchen untergekommen, nachdem er geheiratet hatte. Nach dem Tod seiner Frau kehrte er zu uns zurück, und Thomas, der noch zu

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