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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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hatte ich schon zuvor bei Frauen beobachtet, die ein Kind verloren hatten; sie hielten oft jahrelang an, als sei der Geist von einer Krankheit befallen, von der er sich nicht erholen konnte. Ich empfand Mitleid mit ihr, und zugleich fiel es mir schwer zu glauben, dass dieses unglückliche Geschöpf die Mutter des lebhaften Mädchens am anderen Ende des Tisches sein sollte.
    Die zweite Hälfte der Mahlzeit verlief weit weniger interessant als die erste. Mir gegenüber saß Master Walter Slythurst, der Schatzmeister der Universität, ein hagerer, dünnlippiger Mann meines Alters mit schmalen argwöhnischen Augen und langem strähnigen Haar. Neben ihm saß Doktor James Coverdale, ein rundlicher Mann um die vierzig mit einem dunklen Haarschopf und einem sauber gestutzten Bart. Er machte den Eindruck, als sei er mit sich und der Welt zufrieden, und erklärte mir sogleich, er sei der Universitätsproktor und habe als solcher für Disziplin unter den Studenten zu sorgen. Den Platz rechts von mir nahm Master Richard Godwyn ein, der Bibliothekar. Er musste etwas älter sein, vielleicht fünfzig, und seine Züge erinnerten mich an einen Bluthund; seine Haut schien zu groß für sein Gesicht zu sein, aber seine finstere Miene erhellte sich, als er lächelte und mir die Hand reichte. Alle gaben sich sehr höflich, dennoch wünschte ich, ich hätte das Gespräch mit Sophia fortsetzen können. Es war klar, dass das Thema unserer Unterhaltung dem Rektor nicht behagt hatte, sie saß jetzt neben ihm
auf derselben Seite des Tisches wie ich, sodass ich sie nicht ansehen konnte, ohne mich über den Schoß meines Nachbarn Godwyn beugen zu müssen und so die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
    »Ich fürchte, Ihr habt gerade die spitze Seite von William Bernards Zunge zu spüren bekommen, Doktor Bruno«, bemerkte James Coverdale.
    »Ihm scheint die Welt, so wie sie ist, nicht besonders zu gefallen«, erwiderte ich, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Bernard meine Worte nicht hören konnte.
    »Das ist bei alten Männern oft so.« Godwyn nickte bedeutsam. »Er hat in den siebzig Wintern seines Lebens viele Veränderungen erleben müssen, so etwas prägt einen Mann.«
    »Wenn er den Studienanfängern gegenüber seine Meinung genauso offen vertritt wie im Kreis der Fellows, wird er bald denselben Weg gehen wie sein Freund.« Slythursts Ton verriet deutlich, dass er gegen diese Möglichkeit nichts einzuwenden hätte. Ich beurteile Menschen nicht gerne nach ihrer äußeren Erscheinung, wenn ich sie gerade erst kennen lerne, doch der Schatzmeister hatte irgendetwas an sich, das mir nicht behagte. Seit ich meinen Platz eingenommen hatte, starrte er mich unentwegt an, und sein Blick war nicht gerade freundlich.
    »Wie sein Freund?«, fragte ich.
    Coverdale seufzte.
    »Das ist eine traurige Angelegenheit, Doktor Bruno, und eine Schande für die ganze Universität – der frühere stellvertretende Rektor, Doktor Allen, wurde letztes Jahr seines Amtes enthoben, nachdem herausgekommen war …«, er zögerte, suchte nach einer diplomatischen Umschreibung, »… dass er beim Leisten des Suprematseids einen Meineid geschworen hatte. Wie es aussah, war er immer noch ein frommer Anhänger der katholischen Kirche.«
    »Tatsächlich? Wie wurde er ertappt?«
    »Anonym denunziert.« Coverdale schien die Intrige zu genießen. »Als seine Kammer durchsucht wurde, fand man eine
Anzahl verbotener papistischer Bücher. Und der Stellvertreter des Rektors bekleidet natürlich das zweithöchste Amt hier und trägt die Verantwortung, wenn der Rektor abwesend ist – also könnt Ihr Euch wohl vorstellen, was für einen Skandal diese Angelegenheit ausgelöst hat. Einige von uns mussten vor Gericht gegen ihn aussagen.«
    »Die Universität sorgt in solchen Fällen selbst für Gerechtigkeit«, erklärte der Bibliothekar Godwyn in einem düsteren Ton. »Aber bei derartigen Vorkommnissen greift oft auch der Kronrat ein. Der Earl of Leicester – unser Kanzler, müsst Ihr wissen – hat die Universitätsleiter wiederholt dazu angehalten, sich von jeglichem Verdacht des Papismus zu reinigen, also musste unser Rektor mit aller Strenge gegen Allen vorgehen.«
    »Doktor Underhill war früher der Kaplan des Earls, womit er Euch gegenüber zweifellos bereits geprahlt hat«, fügte Slythurst hinzu. »Hätte er Allen gegenüber Gnade walten lassen, hätte er sein Amt verloren.«
    »Trotzdem hat Allen auf eine Begnadigung gehofft«, unterbrach Coverdale. »Und

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