Ketzer
Ecken sich unangenehm in meinen Magen gruben. Trotz der Kälte im Raum jetzt mit nichts als meiner Unterhose bekleidet nahm ich ein Zunderkästchen vom Kaminsims und zündete eine der billigen Talgkerzen an, die ein Diener bereitgelegt hatte. Beißender Rauch durchzog den Raum, als ich Mercers Almanach zur Hand nahm und diesmal hinten aufschlug. Dort gab es einige leere Seiten, von denen eine merkwürdig steif und leicht gewellt war, als wäre sie nass geworden und wieder getrocknet. Ich schnupperte daran – hier war der Orangengeruch am intensivsten. Behutsam, damit sie nicht in Brand geriete, hielt ich die Seite über die Kerzenflamme und sah zu, wie langsam eine Reihe dunkelbrauner Zeichen sichtbar wurde. Als ich das Papier über der Flamme auf und ab bewegte, gab es nach und nach sein verborgenes Geheimnis gänzlich preis: eine Folge von Buchstaben und Symbolen, bei denen ich auf den ersten Blick kein logisches Muster auszumachen vermochte. Darunter war eine kürzere Reihe derselben Symbole erschienen, aber in anderer Anordnung – zwei Gruppen dreier verschiedener Zeichen, dann eine Gruppe von fünfen. Es handelte sich eindeutig um eine Art Code, nur leider hatte ich von Geheimschriften wenig Ahnung und wusste nicht, wie ich diese entschlüsseln sollte. Möglicherweise hatte ja Sidney eine Idee, er war mit derlei Dingen vertrauter als ich. Also nahm ich einen Bogen Papier und eine Schreibfeder und fertigte eine genaue Kopie der Symbole an, so wie sie auf der Almanachseite angeordnet waren. Morgen würde ich ihm diese Nuss zu knacken geben. Während ich die ersten drei Zeilen abschrieb, ging mir jedoch bereits selbst ein Licht auf: Die Symbole waren in einer Vierundzwanzigerfolge arrangiert, und diese Folge wurde dreimal wiederholt.
Ich stutzte. Das englische Alphabet umfasste vierundzwanzig Buchstaben, doch wer würde sich schon eines so offenkundigen
Codes bedienen? Dennoch könnte ein Versuch nicht schaden, demzufolge schrieb ich das Alphabet unter die erste Symbolreihe. Wenn ich es mit einem einfachen Austauschcode zu tun hätte, müssten die Buchstabengruppen darunter etwas zu bedeuten haben. Auf dieser Basis übertrug ich die ersten drei Symbole, und als ich als Ergebnis O-R-A erhielt, beschleunigte sich mein Pulsschlag. Rasch übersetzte ich die letzten beiden Wörter des kurzen Satzes und sog zischend den Atem ein. Ich hatte ORA PRO NOBIS niedergeschrieben.
Nachdem ich meine Abschrift sorgfältig gefaltet, in Mercers Almanach deponiert und beides unter mein Kopfkissen geschoben hatte, legte ich mich aufs Bett und versuchte mir vorzustellen, was Roger dazu bewogen haben könnte, diese Worte – den Refrain der katholischen Heiligenlitanei – unsichtbar hinten in seinen Almanach zu schreiben. Die Auflösung dieses Rätsels musste jedoch warten, ich kam bald zu dem Schluss, dass es wichtigere Dinge gab, auf die ich mich zur Stunde konzentrieren musste. Eigentlich hatte ich hierauf nur für eine kurze Weile die Augen schließen wollen, bevor ich mich auf die bevorstehende Disputation vorbereitete, die meinen ersten Besuch in Oxford krönen sollte, da wurde ich urplötzlich von einem wilden Hämmern an der Tür aus meinem Schlummer gerissen. Verwirrt und schlaftrunken saß ich sofort senkrecht im Bett.
»Aufmachen, um Himmels willen!«, bellte eine Männerstimme. Mein Magen krampfte sich einen Moment lang zusammen – hatte es etwa einen neuen gewaltsamen Todesfall gegeben? Am Türknauf wurde heftig gerüttelt, während ich mich aus meiner Decke wickelte und mir ein sauberes Hemd überstreifte. Als ich endlich die Tür aufriss, stand Sidney vor mir, sichtlich ungeduldig, die Tolle hochgekämmt, von Kopf bis Fuß in grünen Samt gekleidet und mit einer Halskrause angetan, die seinen Kopf aussehen ließ, als würde er auf einer Platte serviert.
»Gütiger Gott, Bruno, ich bin gekommen, sowie ich davon erfahren habe!« Er stapfte in den Raum und zog seine Handschuhe aus. »Ich hatte heute Morgen kaum gefrühstückt, als ich
hörte, worüber mich eigentlich die Diener hätten informieren müssen, das gesamte Christ Church College summt wie ein Bienenkorb; man spricht von nichts anderem als von der wilden Bestie, die im Lincoln College ihr Unwesen treibt und unschuldige Menschen ins Verderben reißt.« Er begutachtete mich mit gespieltem Entsetzen. »All deine Gliedmaßen scheinen ja zum Glück noch vorhanden zu sein. Dem Himmel sei Dank dafür.«
»Philip – heute Morgen starb ein Mann gewissermaßen
Weitere Kostenlose Bücher