Kill Decision
Start-und-Lande-Verkehr. Draußen erhellten grelle Natriumdampflampen das Vorfeld, wo Schnee über die Betonfläche wehte. Drinnen hing Weihnachtsdekoration an den Türrahmen. Fotos von Kindern standen auf den Schreibtischen.
Die Telefone waren tot. Tasten und Knöpfe zu drücken brachte gar nichts. Auch den Computern ließ sich kein Lebenszeichen entlocken. Sämtliche Festplatten schienen entnommen, und unter jedem Schreibtisch war ein abgeschlossener kleiner Safe. Die Schubladen waren ebenfalls abgeschlossen. Hier war alles gründlich dichtgemacht worden.
McKinney spreizte die Lamellen der Innenjalousie weiter auseinander, um mehr vom Vorfeld sehen zu können. Soldaten in Uniform und olivgrünen Parkas waren im böigen Wind zugange. Junge Amerikaner verschiedenster ethnischer Herkunft. Sie zeigten mit Fingern und redeten miteinander, während sie Paletten mit Armeematerial auf hydraulischen Hubwagen umherkarrten. Lachten gelegentlich, erkennbar an den Atemwolken in der kalten Luft. Was sie sagten, war durch die Doppelfenster nicht zu hören.
Es kam ihr unwirklich vor. Es war alles so schnell gegangen. In Tansania war jetzt gerade die heiße Trockenzeit, in der es mit den Forschungsarbeiten fertig zu werden galt, bevor die Frühjahrsregenzeit einsetzte. Hier schneite es. Sie fragte sich, was jetzt wohl aus ihrem Weberameisenprojekt werden würde, nachdem die Regierung sie entführt hatte. Sie hatte Jahre gebraucht, um die Mittel zu bekommen.
Ihr war klar, dass das egoistisch war, aber ein bisschen Selbstmitleid konnte sie sich nicht verkneifen. Andererseits hätte es viel schlimmer kommen können. Wenn Odin und sein Team sie nicht gerettet hätten, wäre sie jetzt tot und es gäbe gar kein Projekt mehr, Punkt.
Ihre Ergebnisse wurden also von irgendjemandem missbraucht, um Angriffe auf die USA zu verüben. Es hatte schon über hundert Tote gegeben. Sie sah die Fotos wieder vor sich, verbrannte Leichen, nicht die entschärften Nachrichtenbilder, sondern drastische Aufnahmen von grässlich verstümmelten Menschen. Was in den Medien all die Monate als Terroranschläge bezeichnet worden war, ging letztlich auf ihre Forschungsarbeit zurück. Und jetzt waren sie nach einem kurzen Flug zum Flughafen von Morogoro in eine wartende, ungekennzeichnete Gulfstream V umgestiegen und sieben Stunden hierher nach Deutschland geflogen. Sie hatte fast die ganze Zeit schweigend dagesessen. Wenigstens hatten sie sie mit ihren Gedanken allein gelassen.
Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte sie noch in glücklicher Ahnungslosigkeit auf einem harten, schmalen Bett in Afrika gelegen. Schwer zu fassen, dass ihre stickige, vollgestopfte kleine Hütte samt allem, was darin war – samt ihrer vorhersehbaren Zukunft – auf einen Schlag in Flammen aufgegangen war. Nichts schien mehr wirklich, auch nicht der Raum, in dem sie jetzt stand.
McKinney dachte daran, wie oft sie schon dieses surreale Gefühl gehabt hatte, plötzlich aus allem herausgerissen und ganz woandershin versetzt worden zu sein. Ins Unbekannte. Ihre gesamte Kindheit war davon geprägt gewesen. Ihr Vater war als Chemieingenieur in der Planung von Ölraffinerien tätig gewesen – ein Beruf, der ihre Familie rund um den Globus führte. Dadurch hatte sie schon früh ganz verschiedene Lebenswelten kennengelernt. Aufgeschlossen und neugierig, wie sie war, hatte sie davon profitiert, indem sie Insekten, Pflanzen und Freunde aus allen Erdteilen sammelte. Das war wohl der Grundstein ihres anhaltenden Interesses für die Menschen und Lebewesen dieser Welt. Bis heute pflegte sie Freundschaften aus ihren Jahren in Südamerika, Osteuropa, Afrika, Australien und Asien.
Ihre Kindheitserfahrungen hatten sie vor allem eins gelehrt: dass die Welt nicht voll von Gefahr war. Natürlich gab es manchmal Gefahren, aber das war nicht die Regel. Die Gemeinsamkeit aller Kulturen, die sie erlebt hatte, bestand darin, dass die meisten Leute anständig waren und einfach nur in Frieden ihre Kinder großziehen wollten. Dieser grundlegende Wunsch verband sie alle.
Deshalb war die derzeitige allgegenwärtige Angst in Amerika für sie ja so irritierend. Sie fühlte sich wie jemand, der von einer langen, horizonterweiternden Reise zurückkehrt und feststellen muss, dass ein alter Freund in der Zwischenzeit klinisch paranoid geworden ist. Sie erkannte Amerika kaum wieder.
Und jetzt sagte ihr dieser alte Freund, dass ihre Arbeit irgendwie zur jüngsten Bedrohung geworden war.
War das in
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