Kill Decision
diese Angriffe immer noch für normale, altmodische Terroranschläge halten, arbeitet in gewisser Weise gegen Sie, Marta. Es gibt eine signifikante demographische Gruppe, die glaubt, dass unsere Drohnenangriffe in Übersee diese Anschläge provozieren, und je schneller wir enthüllen, dass diese Anschläge Drohnenangriffe sind, desto schneller können wir diese Gruppe zum Umschwenken bringen.»
«Geduld, Henry. Die aktuelle Version gibt uns ein Druckmittel gegen Politiker, die fürchten, von ihrer Wählerschaft abgestraft zu werden, wenn uns Drohnen im eigenen Land angreifen können. Aus irgendeinem Grund ist es eine weitverbreitete Vorstellung, dass der amerikanische Wähler auf Akte mittelalterlicher Barbarei relativ gelassen reagiert, bei Hightech-Angriffen aber völlig durchdreht. So etwas kratzt offenbar am amerikanischen Selbstbewusstsein.»
Clarke sagte achselzuckend: «Könnte was dran sein. Was ist, wenn die Bevölkerung panisch reagiert?»
«O bitte, warum haben immer alle Angst vor einer kollektiven Panikreaktion? Kein Politiker sitzt je so sicher im Sattel, wie wenn Bomben fallen.»
Plötzlich brachte ein gewaltiger Knall in einiger Entfernung die Fensterscheiben zum Vibrieren. Sie verstummten beide. Der Knall verhallte.
Clarke sah auf. «Der nächste Streich.» Er nahm seine Tasche wieder auf und packte sein iPad aus, während er ans Fenster ging.
Marta war schon unmittelbar hinter ihm, als an ihrer Telefonanlage mehrere Leitungen aufleuchteten. Sie ignorierte es und suchte durch die Scheibe den Horizont ab. Dank des klaren Winterwetters sah sie ganz deutlich einige Meilen entfernt eine schwarze Rauchsäule aufsteigen. «Andere Flussseite. Das könnte die Dinge befördern.»
«Das war verdammt nah. Haben Sie denn nie Angst, dass so ein Ding in Ihr Fenster kracht? Mich macht es fix und fertig.»
«Warum sollte man Angst vor dem Tod haben, Henry? Wir sterben alle irgendwann.»
«Na ja, Sie hatten vorher wenigstens noch Gelegenheit zu leben.» Clarke tippte vehement auf seinem iPad herum. «Auf Twitter sollte es gleich losgehen. Ich folge jedem Medienanalysten innerhalb des Beltway. Voilà. Crystal City, drüben beim Reagan International.» Er las vor: «Bürohochhaus. Flammen in oberstem Stock. Scheiben geborsten. Tote.» Er sah auf. «Bei einer Katastrophe will jeder den ersten Tweet absetzen.»
Marta nickte geistesabwesend. «Kontraktfirma des Verteidigungsministeriums – vom Pentagon gleich über den Highway.»
«Ein Angriff so nah am Pentagon – wie zum Teufel sind sie an der Luftabwehr vorbeigekommen?»
«Tarnkappentechnik vielleicht. Oder Abstandswaffen. Oder vielleicht haben sie es ja schon die ganze Woche probiert, ohne dass wir’s wissen, und diese ist durchgekommen.»
Clarke bearbeitete noch immer den Tablet mit dem Zeigefinger. «Ich sage Ihnen, solange die Öffentlichkeit nicht weiß, was wirklich Sache ist, wird sie nicht einsehen, wieso eine Flotte von Kampfdrohnen sie vor Selbstmordattentätern schützen soll. Für die Leute besteht da kein Zusammenhang.»
Sie deutete aus dem Fenster. «Die Terroristen verüben wieder einen Anschlag auf Amerikas militärisch-industriellen Komplex – nach dieser Entdeckung in Karatschi. Ein Senator wurde bereits getötet. Das baut Druck auf, der nach Katharsis schreit. Sie müssen die Macht der Enthüllung verstehen lernen, Henry. Die Öffentlichkeit geht immer davon aus, dass ihr die Wahrheit vorenthalten wird, und wenn die Wahrheit schließlich ‹aufgedeckt› wird, werden die Leute sie mehr als bereitwillig akzeptieren. Sie werden sie mit offenen Armen aufnehmen.» Sie wandte sich ab und ging wieder zu ihrem Schreibtisch, schaute auf Bildschirme, die stumm an der gegenüberliegenden Wand liefen. Die Nachrichtensender brachten noch nichts über den Angriff auf Washington vor wenigen Minuten.
Clarke bemerkte es und schmunzelte in sich hinein. «Irgendwann wird es bestimmt auch bei den alten Medien ankommen.»
Zwischen ihren klingelnden Telefonen rief sie ihm zu: «Verschwinden Sie, und beschaffen Sie mir eine Groundswell öffentlicher Unterstützung, bitte. Ich könnte sie ja vielleicht doch brauchen.»
Er grinste im Hinausgehen: «Dachte ich mir’s doch.»
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10
Dekonfliktualisierung
Linda McKinney starrte aus dem Fenster eines Büros auf einem Militärflughafen bei Wiesbaden. Jedenfalls hatten sie ihr gesagt, dass das der Ort war, an dem sie sich befand. Es war Nacht, niemand mehr in den Büros. Kein
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