Killashandra
Kristalle zu schneiden, weil er fürchtete, dadurch seine Gefühle für sie zu verlieren. Ein Mann, der so lange in der Gilde war wie er, konnte in den Ranges einen großen Teil seines Gedächtnisses verlieren. Hatte er seine Pflichten als Gildemeister so stark verinnerlicht, daß sie den Gedächtnisverlust überleben konnten? Plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge nicht mehr Lanzeckis Gesicht, sondern das Zickzackmuster alter Kristallnarben auf seinem Körper, die unergründlichen Schmerzwellen, die gelegentlich seine Augen verdun-kelten. Antonas geheimnisvolle Bemerkung über Sänger, die den Kristallbann nicht brechen konnten, fiel ihr wieder ein. Sie wunderte sich über die verschiedenartigen Eindrücke, und plötzlich verstand sie. Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen und hielt sich an den Armlehnen fest.
Einen Moment lang fragte sie sich, ob Trag und Antona sich verschworen hatten. Wäre der Kristallbann auch beim Mittagessen zur Sprache gekommen, wenn Rimbol nicht dazugekommen wäre?
Killashandra zweifelte keinen Augenblick lang daran, daß Antona über Lanzeckis Zustand Bescheid wußte. Aber sie bezweifelte, daß die Frau von ihrer Beziehung wußte. Und sie bezweifelte, daß Trag einen so persönlichen Aspekt im Leben des Gildemeisters erwähnt hatte. Warum war Lanzecki nicht einfach irgendein Sänger wie sie selbst? Warum mußte er ausgerechnet Gildemeister und viel zu wertvoll und wichtig sein, um sich durch eine ungewöhnliche Zuneigung zu ihr selbst zu gefährden?
Nun, die Situation eröffnete die üblichen Fallgruben einer klassischen Tragödie! Einer echten Tragödie, für die es nur eine Lösung gab, bei der Held und Heldin zugleich unterlagen. Denn nun konnte sie vor sich selbst zugeben, daß sie für Lanzecki ebenso tiefe Gefühle empfand wie er für sie. Sie legte die Hände vors Gesicht, preßte sie auf die plötzlich eiskalten Wangen.
Sie dachte an Antonas Rat, alles aufzuzeichnen — einschließlich ihrer Liebe. Killashandra wand sich auf ihrem Stuhl. Antona konnte nicht gewußt haben, daß Killashandra so bald vor einer derartigen Entscheidung über ihre Gefühle stehen würde. Eine Entscheidung, dachte Killashandra ironisch und etwas amüsiert, die sie so bald wie möglich begraben und vergessen mußte.
Eins war sicher: Ganz egal, wie lange die Reise nach Optheria dauern würde, es wäre nicht lange genug, um alle wundervollen Augenblicke zu vergessen, die sie mit Lanzecki verbracht hatte. Der Gedanke, ihm bei ihrer Rückkehr zu begegnen und in seinen dunklen Augen keine Spur des Erkennens zu finden, schmerzte sie. Sie kniff die Augen zusammen. Nie wieder seine Lippen oder seine Hand auf ihrer Haut spüren ...
»Killashandra?« Trags Stimme rief sie in die Gegenwart zurück. Er wartete.
»Da ich jetzt den Hintergrund des Auftrags kenne, Trag, kann ich ihn kaum noch ablehnen.« Ihr munterer Tonfall verlor durch die Tränen, die ihre Wangen herabrollten, erheblich an Glaubwürdigkeit. »Gehst du mit ihm, um den Bann zu brechen?« fragte sie, als ihre Kehle so frei war, daß sie wieder sprechen konnte.
Zu jeder anderen Zeit hätte sie Trags verblüfften Blick als Zeichen ihres Sieges interpretiert. Vielleicht fand sie eines Tages auch jemanden, mit dem sie singen und eine ebenso leidenschaftliche und unerschütterliche Treue genießen konnte. Das durfte sie nicht vergessen.
»Wann startet das nächste Shuttle nach Shanganagh, Trag?« Sie rieb sich ungeduldig die Wange trocken.
»Sag Lanzecki — sag ihm ... Sag ihm, die Kristallresonanz hätte mich dazu getrieben.« Sie stand auf und lachte. Es klang schon fast hysterisch. »Das ist sogar beinahe die Wahrheit, oder?« Um sich Bewegung zu verschaffen, stopfte sie aufs Geratewohl Kleidungsstücke in ihren Seesack.
»Das Shuttle legt in zehn Minuten ab, Killashandra Ree.«
»Das ist gut.« Sie kämpfte mit den Verschlüssen des aufgequollenen Sacks. »Kommst du an Bord, Trag? Anscheinend wird es zur Gewohnheit, daß du mich im letzten Augenblick ins Shuttle nach Shanganagh setzt, damit ich in der ganzen Galaxis eigenartige Aufträge übernehmen kann.« Sie konnte der Verlockung, Trag zu sticheln, nicht widerstehen. Er war für ihr Elend verantwortlich, und sie wollte sich in einem Augenblick, da sie einen tiefen persönlichen Verlust erlitt und ihre Liebe opferte, stark und selbstbewußt geben. Sie blickte zum Schirm und bemerkte, daß er dunkel war. »Feigling!«
Sie riß die Tür auf. Sie beschloß, daß es eine verschwendete Geste
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