Killing time
Natürlich hatte sie schon einige vielsagende Blicke bei ihren Studenten geerntet, doch die ignorierte sie einfach.
Während sie mit den Perlen an ihrem Hals spielte, überlegte sie, was Brandon wohl sagen oder tun würde, wenn er sah, dass sie sein Geschenk trug. Würde er sie bloß anlächeln oder ihr sagen, wie sehr es ihn freute, dass sie seine Perlen umgelegt hatte? Sicher erkannte er, was sie ihm mit der Kette zu verstehen geben wollte, nämlich dass sie gern bereit war, eine Beziehung mit ihm einzugehen.
Sie war heute Morgen extra früh gekommen, weil sie hoffte, Brandon noch im Aufenthaltsraum der Lehrkräfte zu treffen, bevor er ebenfalls in seinen Acht-Uhr-Kurs ging. Doch er war nicht da gewesen. Ihre Enttäuschung musste ihr anzusehen gewesen sein, denn Marianne Clark hatte sie gefragt, ob etwas nicht in Ordnung war. Thomasina hatte der wichtigtuerischen Kollegin, die in diesem Sommersemester einen Grundkurs in Biologie unterrichtete, eiskalt ins Gesicht gelogen.
»Nein, alles bestens. Ich denke nur gerade darüber nach, wie ich meine Studenten motivieren will. Leider interessieren sich die wenigsten von ihnen für Geschichte.«
Und in den heutigen Vormittagskursen konnte Thomasina sich ebenso wenig für den Aufstieg und Fall des Römischen Reiches begeistern wie ihre Studenten. Immer wieder hatte sie sich dabei erwischt, wie sie vor sich hin träumte, und in den letzten dreißig Minuten hatte sie praktisch die Sekunden bis zur Mittagspause gezählt. Als der Kurs endete, griff sie nach ihrem mitgebrachten Mittagessen, lief aus dem Gebäude und eilte direkt zum Kunsttrakt. Sollte sie Brandon nicht zufällig begegnen, würde sie einfach an seinem Büro vorbeigehen, das gleich neben den Kunsträumen lag. Und falls sie jemand fragte, was sie dort tat, konnte sie eine überzeugende Ausrede vorbringen. Den ganzen Juli über wurden dort die Werke der Studenten ausgestellt – Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen.
Nervös wie eine Dreizehnjährige bei ihrem ersten Date, ging Thomasina den Korridor hinunter auf den Kunstraum zu. Da die Tür weit offen stand, blieb sie einfach stehen und sah hinein, wobei sie sich bemühte, möglichst gleichgültig zu wirken.
Der Kunstraum war leer. Ein paar Studenten kamen an ihr vorbei und grüßten sie. Thomasina lächelte ihnen zu, nickte und schlenderte an Brandons Büro vorbei, dessen Tür verschlossen war. Sie näherte sich ihr vorsichtig, weil niemand bemerken sollte, dass sie nach Dr. Kelley sah, beugte sich zur Tür und lauschte. Nichts. Kein Geräusch. Aber er könnte trotzdem da sein. Vielleicht aß er gerade, las oder ruhte sich aus.
Klopf doch an und begrüße ihn. Sag ihm, du bist rübergekommen, um dir die Arbeiten der Studenten anzusehen. Aber wenn sie das täte, wirkte es dann vielleicht so, als wäre sie allzu leicht zu gewinnen? Durfte sie den nächsten Schritt tun, oder war es ihm lieber, wenn sie wartete, bis er die Sache vorantrieb?
Nein, sie wollte nicht warten. Sie war es leid, länger abzuwarten. Sie würde die Dinge ja nur ein wenig beschleunigen, damit sie sich zumindest darin einig wären, dass sie eine Beziehung miteinander haben wollten.
Nachdem sie all ihren Mut gesammelt hatte, ballte Thomasina die Hand zur Faust, hob sie und klopfte an die Tür. Dabei vernahm sie ihren Herzschlag als wildes Donnern in ihren Ohren.
Keine Antwort.
Sie klopfte noch einmal, diesmal fester und doppelt so lange.
»Er ist nicht da«, sagte eine vertraute Stimme.
Thomasina hielt den Atem an, als sie sich umdrehte und Scotty Joe Walters zulächelte. Scotty war ein netter und gutaussehender junger Hilfssheriff, der für die Programme zur Gewalt- und Drogenprävention an den Schulen und Colleges in Adams County zuständig war und Nachbarschaftswachen organisierte. Da das Junior College dem hiesigen Sheriff-Büro Platz in der Bibliothek zur Verfügung stellte, wo sie ihre Bücher und Broschüren lagern konnten, kam es Thomasina manchmal so vor, als wäre Scotty Joe ein Kollege. Jeder hier mochte den Hilfssheriff. Er war stets freundlich, entgegenkommend und verhielt sich wie ein wahrer Gentleman. Jede Mutter wünschte sich einen solchen Sohn oder wenigstens Schwiegersohn. Wie alt er war, wusste Thomasina nicht genau. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig.
»Wie bitte?«, sie gab sich betont ahnungslos, als verstünde sie überhaupt nicht, was er meinte.
»Dr. Kelley. Er ist nicht in seinem Büro«, sagte Scotty Joe. »Sie wollten doch zu ihm, oder
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