Kind 44
gewichen. Er umklammerte seinen Kopf mit den Händen, so als könne das ihn schützen, schloss die Augen und stellte sich vor, er sei wieder in den Armen seiner Eltern.
Andrej prallte mit solcher Wucht auf den Jungen, dass sie beide zu Boden fielen. Andrej kam über dem Jungen zu liegen, der sich unter ihm wand, kratzte und sich in seiner Jacke verbiss. Andrej hielt sich flach auf dem Jungen, damit er nicht wegkonnte, und murmelte:
»Das Biest lebt noch!«
Er zog ein langes Jagdmesser hervor, das in seinem Gürtel gesteckt hatte. Mit geschlossenen Augen stach er unter sich, erst ganz vorsichtig, nur mit der Spitze, und hörte die Schreie. Er wartete, kostete den Moment aus, fühlte die Zuckungen des Kampfes in seinem Bauch. Was für ein Gefühl! Erregt stieß er das Messer immer tiefer und schneller hinein, immer tiefer und schneller, bis er es schließlich bis zum Schaft versenkte.
Da bewegte sich das Kind aber schon nicht mehr.
Drei Monate danach
Südöstliche Rostower Oblast
Asowsches Meer
4. Juli
Nesterow saß mit im Sand vergrabenen Zehen da. Dieser Strandabschnitt war beliebt bei Leuten, die in der etwa 40 Kilometer nordöstlich gelegenen Stadt Rostow am Don wohnten, und der heutige Tag machte da keine Ausnahme. Der Strand war übersät mit Menschen. Die Einwohner waren aus ihrem Winterschlaf erwacht, der lange Winter hatte ihnen die Haut ausgebleicht. Er versuchte anhand des jeweiligen Körperbaus zu erraten, in welchen Berufen die Leute arbeiteten. Die dickeren Männer waren bestimmt irgendwie wichtig, vielleicht Fabrikdirektoren, Parteikader oder hochrangige Beamte der Staatssicherheit. Nicht welche, die Türen eintraten, sondern solche, die Dokumente unterschrieben. Nesterow bemühte sich, nur nicht ihre Blicke auf sich zu ziehen, und konzentrierte sich auf seine Familie. Seine beiden Söhne spielten im flachen Wasser, seine Frau lag neben ihm auf der Seite und schlief, die Augen geschlossen und eine Hand unter den Kopf geschoben.
Auf den ersten Blick gaben sie ein Bild der Zufriedenheit ab, die perfekte sowjetische Familie. Und sie hatten ja auch allen Grund, entspannt zu sein, denn sie waren in den Ferien und hatten einen Dienstwagen der Miliz nebst staatlichem Benzingutschein zu ihrer Verfügung. Eine Belohnung für die erfolgreiche, diskrete und effiziente Lösung zweier voneinander unabhängiger Mordfälle. Er solle mal alle Fünfe gerade sein lassen, hatte es geheißen, das sei ein Befehl. Nesterow wiederholte die Worte im Geiste und ließ sich ihre unfreiwillige Ironie auf der Zunge zergehen.
Der Prozess gegen Warlam Babinitsch hatte zwei Tage gedauert. Der Verteidiger hatte auf Geistesgestörtheit plädiert. Die Verfahrensrichtlinien verlangten, dass die Verteidigung nur mit den Aussagen von der Anklage bestellter Zeugen arbeiten durfte, eigene Zeugen durfte sie nicht aufrufen. Nesterow war kein Anwalt, aber er musste auch keiner sein, um zu verstehen, welch ungeheurer Vorteil der Anklage damit in die Hand gespielt wurde. In Babinitschs Fall sollte die Verteidigung die Geistesgestörtheit beweisen, ohne auf einen einzigen Zeugen zurückgreifen zu können, der nicht vorher schon von der Anklage präpariert worden war. Da im Krankenhaus Nr. 379 keine Psychologen beschäftigt waren, hatte die Anklage einen Arzt ohne Fachkenntnisse bestimmt, sein Urteil abzugeben. Der Arzt hatte zu Protokoll gegeben, Warlam Babinitsch kenne den Unterschied zwischen richtig und falsch und wisse auch, dass Mord falsch sei. Die Intelligenz des Angeklagten sei zwar begrenzt, aber ausreichend, um einen Begriff wie Verbrechen zu verstehen, denn immerhin habe er bei seiner Verhaftung ja geäußert: Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.
Der Verteidigung blieb anschließend nichts anderes übrig, als denselben Arzt noch einmal in den Zeugenstand zu rufen, damit er nun die gegenteilige Meinung vertrete. Warlam Babinitsch war schuldig gesprochen worden. Nesterow hatte einen maschinengeschriebenen Brief erhalten, in dem bestätigt wurde, dass der Siebzehnjährige auf Knien gestorben war, getötet durch einen Schuss in den Hinterkopf.
Doktor Tjapkins Fall hatte noch weniger Zeit in Anspruch genommen, kaum einen Tag. Seine Frau hatte ausgesagt, er sei gewalttätig, seine krankhaften Phantasien beschrieben und behauptet, der einzige Grund, warum sie nichts gesagt habe, sei die Furcht um ihr eigenes Leben und das ihrer kleinen Kinder gewesen.
Außerdem hatte sie vor dem Richter erklärt, sie habe sich von ihrer Religion
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