Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
losgesagt, dem Judentum. Sie wolle ihre Kinder zu aufrechten Kommunisten erziehen.
    Als Gegenleistung für diese Aussage hatte man sie nach Schachty umgesiedelt, eine Stadt in der Ukraine, wo sie ihr Leben ohne das Stigma des Verbrechens, das ihr Mann begangen hatte, weiterleben konnte. Und da jenseits von Wualsk niemand von diesem Verbrechen erfahren hatte, hatte sie noch nicht einmal ihren Namen ändern müssen.
    Nachdem diese beiden Fälle abgeschlossen waren, hatte das Gericht sich an die 200 Verfahren gegen Männer gemacht, denen antisowjetisches Verhalten vorgeworfen wurde. Die Homosexuellen waren zu schweren Lagerhaftstrafen zwischen 5 und 25 Jahren verurteilt worden. Um die schiere Anzahl der Fälle flüssig bearbeiten zu können, hatte sich der Richter für das Strafmaß ein Bewertungsschema ausgedacht, das die berufliche Vergangenheit der Angeklagten, die Anzahl ihrer Kinder sowie schließlich die Anzahl der perversen sexuellen Kontakte, die sie angeblich gehabt hatten, mit in Betracht zog. Parteimitglied zu sein wurde zum Nachteil der Angeklagten ausgelegt, denn sie hatten die Partei in Verruf gebracht, obwohl sie es hätten besser wissen müssen. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen.
    Trotz der Gleichförmigkeit der Verhandlungen hatte Nesterow sie von Anfang bis Ende verfolgt, alle 200.
    Nachdem der letzte Mann verurteilt war, hatte er den Gerichtssaal verlassen, nur um zu erleben, dass die örtlichen Parteikader ihm auf die Schulter klopften. Gut gemacht! Es war fast sicher, dass er innerhalb der nächsten paar Monate eine neue Wohnung bekommen würde, spätestens aber bis zum Endes des Jahres.
    In den schlaflosen Nächten nach dem Ende der Prozesse hatte seine Frau ihm erklärt, es sei doch ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis er Leo seine Hilfe zusagen werde, also solle er es doch bitte endlich hinter sich bringen. Hatte er etwa auf ihr Einverständnis gewartet? Ja, vielleicht. Schließlich spielte er nicht nur mit seinem eigenen Leben, sondern auch mit dem seiner Familie.
    Er tat zwar streng genommen nichts Falsches, indem er Fragen stellte und Erkundigungen einholte, aber er arbeitete auf eigene Faust.
    Eigenmächtiges Handeln war immer riskant, denn es bedeutete ja, dass die Strukturen, die der Staat geschaffen hatte, versagt hatten. Dass der Einzelne etwas erreichen konnte, was der Staat nicht konnte. Dennoch war er zuversichtlich, ein paar unauffällige, beiläufige Ermittlungen anstellen zu können, die nicht nach mehr aussehen würden als nach Palaver unter Kollegen.
    Wenn er feststellte, dass es keine ähnlichen Fälle gab, keine anderen ermordeten Kinder, konnte er sicher sein, dass die grausamen Strafen, die er mit herbeigeführt hatte, angemessen und gerecht gewesen waren.
    Obwohl er Leo misstraute und ihm die Zweifel, die er gesät hatte, verübelte, gab es nichts daran zu deuteln, dass der Mann eine ganz einfache Frage gestellt hatte.
    Hatte seine Arbeit einen Sinn oder war sie nur ein Mittel zum Überleben? Es war nichts Schändliches daran, überleben zu wollen, die meisten Leute waren mit nichts anderem beschäftigt. Aber reichte es, im Elend zu leben und nicht einmal mit einem Gefühl des Stolzes belohnt zu werden, nicht einmal durch den Gedanken, einem höheren Ziel gedient zu haben, aufrechterhalten zu werden?
    In den letzten zehn Wochen hatte Nesterow auf eigene Faust gehandelt, ohne sich mit Leo zu besprechen oder ihn mit einzubeziehen. Da Leo mit ziemlicher Sicherheit überwacht wurde, war es besser, möglichst wenig Kontakt zu ihm zu haben. Er hatte ihm lediglich eine Notiz zukommen lassen – Ich helfe Ihnen – und ihn darin angewiesen, diese sofort zu vernichten.
    Es war nicht einfach, an regionale Kriminalakten heranzukommen. Er hatte Telefongespräche geführt und Briefe geschrieben und in beiden das Thema nur am Rande erwähnt, indem er die Effizienz seiner Abteilung lobte, die beiden Fälle so schnell gelöst zu haben. Vielleicht würde er damit ja ähnliche Prahlereien herauskitzeln. Als die Antworten einzutreffen begannen, hatte er sich gezwungen gesehen, mehrere außerdienstliche Bahnreisen in andere Städte zu unternehmen, sich mit Kollegen zu treffen, mit ihnen zu trinken und dabei die entscheidenden Fälle höchstens in einer halben Minute zu erwähnen, um sich anschließend schnell wieder anderer Dinge zu brüsten. Es war eine außerordentlich ineffiziente Methode, um an Informationen zu kommen.
    Drei Stunden Besäufnis für vielleicht zwei Minuten brauchbarer

Weitere Kostenlose Bücher