Kind der Hölle
brach, doch als sie tiefer tauchte, wurde das Licht schwächer, und dann sah sie ihren Bruder.
Er war weit unter ihr, schaute zu ihr empor und streckte eine Hand nach ihr aus. Gleich darauf sank er tiefer in die Dunkelheit hinab, und obwohl sie ihre Beine so schnell wie möglich bewegte, konnte sie ihn nicht erreichen. Das Wasser schien sich in Gelee zu verwandeln, aber sie kämpfte mit allen Kräften dagegen an, um bei ihrem Bruder zu sein, bevor er endgültig verschwand. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Fingerspitzen, und Kim wollte seine Hand umklammern, doch er fiel in die Tiefe.
Sie gab ihre erfolglosen Bemühungen auf und ließ sich im dunklen Wasser treiben. Eine gähnende Leere – so schwarz wie das Wasser – tat sich in ihrem Innern auf, und während sie darin versank, ließ der Schmerz, daß sie ihren Bruder nicht hatte retten können, allmählich nach.
Es wurde immer dunkler um sie herum.
Dann tauchte inmitten der Finsternis ein Lichtpunkt auf, und langsam wurde er heller. Kim glaubte, sie würde an die Wasseroberfläche treiben, aber als sie ihre Augen öffnete, war der See verschwunden.
Sie stand wieder in dem kathedralenartigen Gewölbe, das größer denn je zu sein schien. Diesmal war es nicht von strahlendem Licht durchflutet, sondern mit dunklen Schatten angefüllt, zwischen denen sie hilflos umhertappte. Endlich sah sie das Kreuz, das verkehrt herum in der Luft zu schweben schien, und sie ging wie gebannt darauf zu. Die Kerzen auf dem Altar unter dem Kreuz flammten plötzlich auf, und in ihrem Schein konnte sie erkennen, daß ein Tierkadaver auf dem Altar lag, mit einem Messer im Herzen, aus dem Blut in einen Silberkelch floß.
Zwei verhüllte Gestalten tauchten zu beiden Seiten des Altars auf und bewegten sich aufeinander zu. Sie versperrten Kim den Blick auf den Altar und auf das Kreuz, aber sie wußte, daß etwas Gräßliches vor sich ging. Sie wollte wegrennen, wurde jedoch von einer unsichtbaren Kraft festgehalten.
Die verhüllten Gestalten traten beiseite, und sie konnte das Kreuz wieder sehen. Eine winzige Gestalt mit schmerzverzerrtem Gesicht hing daran. Silbernägel waren durch die Handgelenke getrieben. Ein dritter Nagel hielt die Füße des Kindes fest. Blut tropfte aus einer Wunde in seiner Brust, lief über Hals und Gesicht und versickerte in den Haaren, die sich rot färbten.
Molly!
Kim schrie laut auf, und die beiden verhüllten Gestalten wirbelten herum.
Ihr Vater und ihr Bruder starrten sie mit haßverzerrten Gesichtern an.
Sie schrie wieder – und erwachte.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und ihre Haut war mit einem klebrigen Schweißfilm überzogen.
Ein Traum, sagte sie sich. Es war nur ein Traum!
Kim versuchte den Alptraum aus ihrem Gedächtnis zu tilgen, doch die Gesichter ihres Vaters und Bruders starrten sie aus der Dunkelheit höhnisch und herausfordernd an.
Sie wälzte sich im Bett hin und her, doch jetzt wurde sie von dem schmerzverzerrten Gesicht ihrer kleinen Schwester verfolgt, die mit dem Kopf nach unten ans Kreuz genagelt war und einen qualvollen Tod erlitt.
Ihr fiel der andere Alptraum wieder ein, in dem ihr Bruder Scout getötet hatte. Und als sie mit ihrer Mutter nach dem Hund gesucht hatte, war er verschwunden gewesen.
Im ersten Morgengrauen stand Kim auf und schlich auf Zehenspitzen zu Mollys Zimmer. Das riesige Haus war totenstill, aber sie fühlte sich von unsichtbaren Augen beobachtet. Vor der Tür blieb sie stehen, weil sie einen eisigen Windhauch spürte. Mit zittriger Hand öffnete sie die Tür. Die Kälte schien jetzt nach ihrer Seele zu greifen.
Sie betrat das Kinderzimmer und näherte sich dem Bett. Im schwachen grauen Licht sah sie jedoch nur zerknüllte Laken und Decken.
»Molly?« flüsterte sie. »Molly?«
Keine Reaktion. Kim beugte sich über das Bett. Bitte, betete sie verzweifelt, bitte laß ihr nichts passiert sein.
Sie schob die Decke beiseite.
Molly schlief fest, einen Daumen im Mund.
Kim schluchzte vor Erleichterung leise auf. Sie küßte das Kind auf die Stirn und deckte es behutsam wieder zu.
ALLERSEELEN
33. Kapitel
Jake Cumberlands Hütte sah fast idyllisch aus, als Corinne Beckwith auf der kleinen Lichtung am See parkte. Jakes Hund lag an der Kette. Er richtete sich aber auf und legte den Kopf schief, als überlegte er, ob er bellen sollte, als Corinne ausstieg und mit ausgestreckter Hand langsam auf ihn zukam. »Alles in Ordnung«, sagte sie beruhigend. Er stand auf, lief ihr entgegen,
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