Kind der Hölle
mochte.
Sie öffnete die Tür.
Die nackte Leiche hing vom Kronleuchter herab und hatte einen dicken Strick um den Hals. Der offene Mund gab die Zunge frei. Tote Augen starrten Kim an.
Es war ihre Mutter.
Das Mädchen tastete nach dem Kreuz und hörte wieder jene innere Stimme: Nicht real!
Ihre tote Mutter hob den Arm und deutete anklagend auf ihre Tochter.
»Deine Schuld!« krächzte sie mit grauen Lippen.
Kim bekam weiche Knie, ihr Herz raste zum Zerspringen, und sie drohte von Hysterie überwältigt zu werden. Doch dann hörte sie tief in sich die Stimme ihrer Großtante, die ihr zuflüsterte: Es wird dich beschützen. Das Kreuz wird dich beschützen. Sie bezwang die lähmende Furcht, kehrte der Leiche den Rücken zu und ging zur Frisierkommode, auf der das Schmuckkästchen ihrer Mutter stand. Sie öffnete es und begann nach dem zweiten Kreuz zu suchen. Im obersten Fach lagen mehrere Halsketten und billige Ringe. Kim hob dieses Fach heraus und entdeckte darunter drei Schachteln. Die erste enthielt eine einreihige Perlenkette, die zweite einen kostbaren Jadeanhänger, den ihre Großmutter früher oft getragen hatte. An die Kette war ein kleiner Zettel geheftete, und sie erkannte ihre zittrige Schrift: Für Kim, an ihrem 21. Geburtstag. Einen Moment lang umklammerte sie den Anhänger, dann legte sie ihn zurück und öffnete die dritte Schachtel.
Das zweite goldene Kreuz funkelte sie an. Als Kim es in die Hand nahm, hörte sie hinter sich einen Schrei. Sie drehte sich um und sah, daß die Leiche ihrer Mutter krampfhaft zuckte und gierig die Finger ausstreckte, um Kim das Kreuz zu entreißen.
»Nein« rief das Mädchen. »Niemals!«
Das Gespenst schrie wieder, und die toten Gesichtszüge verzerrten sich vor Wut. Die Arme reckten sich Kim entgegen, bis die Fingerspitzen sie fast berührten.
Kim hielt den Atem an, wich aber nicht zurück.
Mit einem letzten vergeblichen Aufheulen gab die Leiche ihre Bemühungen auf.
Das Goldkettchen um ihre Finger geschlungen, das Kreuz fest in der linken Hand, ging Kim zur Tür. Sie blieb dort aber lauschend stehen, weil sie sogar durch das dicke Holz hindurch etwas hören konnte – ein Geräusch, das ihr irgendwie bekannt vorkam, das sie jedoch nicht identifizieren konnte.
Sie öffnete die Tür einen Spalt weit, und nun war der Lärm ohrenbetäubend.
Wespen!
Millionen Wespen schwirrten umher. Die Wolke war so dicht, daß Kim die gegenüberliegende Seite der Galerie kaum sehen konnte. Ihr Instinkt riet ihr, die Tür zuzuschlagen und im sicheren Schutz des Schlafzimmers auszuharren, bis die summende Horde verschwunden war. Doch sie setzte sich darüber hinweg und riß die Tür weit auf.
Die Wespen umschwirrten ihren Kopf.
Sie rannte auf die Treppe zu. Ihre Haut prickelte, weil sie erwartete, daß Millionen winziger Füße auf ihr herumkrabbeln, daß Tausende scharfer Stachel sich in ihr Fleisch bohren würden. Kim hetzte die Treppe hinab, flüchtete ins Eßzimmer und warf die Tür hinter sich zu. Das Summen der Insekten erstarb schlagartig.
Während sie auf die Kellertür zuging, wollte sie jeden Blick auf das Wandgemälde ihrer Mutter vermeiden. Sie befürchtete, daß es sich seit dem Morgen weiter verändert haben könnte. Doch ihre Augen wurden magisch davon angezogen, und sie schnappte entsetzt nach Luft. Sie blickte in ein flammendes Inferno jenseits der Verandatüren, die ihre Mutter gestaltet hatte. Büsche und Bäume brannten lichterloh, überall loderten Feuerzungen empor, und dichte Rauchwolken verhüllten den Himmel. Auf dem Rasen wälzten sich brennende Menschen, und eine Kakophonie des Stöhnens Tausender gemarterter Seelen hallte in Kims Ohren. Sie wurde von einer unerträglichen Hoffnungslosigkeit gepackt, und plötzlich verspürte sie das Verlangen, der Eiseskälte zu entfliehen, die seit dem Betreten des Hauses ihre Glieder lahmte. Dazu brauchte sie nur durch die Verandatür ins Freie zu treten. Die Flammen würden sie wärmen.
Die Flammen der Hölle.
Sie machte einen Schritt auf die Türen zu, die sich weit öffneten, so als wollten sie Kim willkommen heißen.
Noch ein Schritt.
Und noch einer.
Nur noch ein einziger, dann …
Kim bekam sich wieder unter Kontrolle, sie kehrte der flammenden Ewigkeit den Rücken zu und eilte zur Kellertür.
Sobald die Tür hinter ihr zufiel, war sie von totaler Finsternis umgeben.
Das Kreuz in der geballten Faust, stieg sie die Treppe hinab.
Janet spürte eine Dolchspitze an ihrer Kehle, doch nicht einmal die
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