Kind der Hölle
auf dem Tisch näher zu sich heran – Tisch, Stuhl und ein schmales Bett waren die einzigen Einrichtungsgegenstände – und schlug ihn aufs Geradewohl auf, so als hoffte er auf einen Fingerzeig Gottes.
Die Heilige Schrift öffnete sich zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, vor Christi Geschlechterregister im 1. Kapitel des Matthäusevangeliums. An dieser Stelle waren einige Blätter für die Familienchronik bestimmt, und die Seite, die Vater Devlin vor sich hatte, war in geschliffener Schrift von Hand beschrieben. Doch obwohl die einzelnen Buchstaben gestochen scharf waren, konnte er die verblaßten Wörter nur schwer entziffern.
Am Anfang stand ein Datum: 16. April 1899.
Darunter befand sich ein Tintenfleck, und der erste Satz des Eintrags lautete:
Ich werde diesen schlimmen Tag nicht überleben.
Mit beschleunigtem Puls las Vater Devlin weiter …
LORETTA VILLIERS CONWAY SASS AN IHREM SCHREIBTISCH, KERZENGERADE, SO WIE IHRE MUTTER ES IHR VON KLEIN AUF BEIGEBRACHT HATTE. DOCH TROTZ DIESER PERFEKTEN HALTUNG, DIE NICHT NUR IN ST. ALBANS, SONDERN IM GANZEN COUNTRY BERÜHMT WURDE, ZITTERTE IHRE HAND, ALS SIE DIE FEDER INS TINTENFASS TAUCHTE UND EIN TROPFEN DER SCHWARZEN FLÜSSIGKEIT AUF DIE LEERE SEITE DER BIBEL FIEL, DIE SIE VOR IHREM MANN VERSTECKT HIELT. LORETTA WAR JEDOCH SO VERSTÖRT, DASS SIE DEN FLECK KAUM BEMERKTE UND EINFACH WEITERSCHRIEB.
Ich glaubte zunächst, das Krähen des Hahns hätte mich geweckt, aber es war nicht der Hahn, wie ich feststellte, als ich auf die Galerie des Hauses trat, das Monsignore Melchior für uns gebaut hat. Die Schreie waren von hier aus Besser zu hören, und ich begriff sofort, daß sie von der Magd stammten, deren schwere Stunde gekommen war. Ich dachte in diesem Augenblick, daß Bessie mir heute vielleicht endlich den Namen des Mannes gestehen würde, der sie geschwängert hatte. Doch als die Kinder geboren waren, brauchte Bessie mir nichts mehr zu Beichten. Die Gesichter der beiden winzigen Geschöpfe verrieten zweifelsfrei den Vater. Bessie, die sehr kräftig ist, legte das Zweitgeborene sofort an ihre Brust und gab ihm den Namen Francesca. Francis – der mein Sohn war, bis ich heute in die Gesichter seiner Negerkinder geschaut habe – nahm Bessie das andere Kind weg. Und als ich später ihre Kammer verließ, nachdem ich sie so gut wie möglich versorgt hatte, hörte ich Geräusche aus dem Keller des Hauses. Aber das spielte keine große Rolle mehr, denn ich wußte bereits, was ich zu tun hatte. Der Fluch, der auf dieser Familie lastet, wird nicht enden, und ich weiß jetzt, daß es nur einen einzigen Ausweg für mich gibt. Ich weiß nicht, ob mich Himmel oder Hölle erwartet, wenn ich gleich die Schlinge um meinen Hals legen werde. Es ist auch nicht so wichtig. Mir genügt es, endlich diesem Haus zu entrinnen.
LORETTA VILLIERS CONWAY WISCHTE DIE FEDER SORGFÄLTIG AB, BEVOR SIE SIE WEGLEGTE. SIE WARTETE, BIS DIE TINTE GETROCKNET WAR, UM DANN DIE BIBEL ZU SCHLIEßEN UND SIE IN BESSIE DELACOURTS KAMMER ZU TRAGEN, DIE DORT NOCH IM BETT LAG UND DAS IHR VERBLIEBENE TÖCHTERCHEN AN IHRE BRUST DRÜCKTE. LORETTA LEGTE DEN LEDERBAND IN DIE OBERSTE SCHUBLADE DER RISSIGEN KOMMODE UND WANDTE SICH DER MAGD ZU. SIE HEGTE KEINEN GROLL GEGEN BESSIE, DENN NICHT DIESES AHNUNGSLOSE MÄDCHEN HATTE SIE HINTERS LICHT GEFÜHRT, SONDERN IHR EIGENER SOHN. »ICH HABE EINE BIBEL IN DEINE KOMMODE GELEGT«, SAGTE SIE. »WENN MEIN SOHN HEIRATET, MUSST DU SIE SEINER BRAUT ÜBERGEBEN.« SIE GING ZUR TÜR, DREHTE SICH ABER NOCH EINMAL UM UND BETRACHTETE DAS GESICHT IHRER ENKELIN. EINEN MOMENT LANG SAH ES FAST SO AUS, ALS WOLLTE SIE DAS NEUGEBORENE BERÜHREN, DOCH DANN ZOG SIE IHRE HAND ZURÜCK, STRAFFTE DIE SCHULTERN UND LIESS DIE MAGD MIT DEM KLEINEN BASTARD ALLEIN. IN IHREM ZIMMER ZOG LORETTA VILLIERS CONWAY DAS KLEID AN, DAS SIE AM TAG IHRER HOCHZEIT MIT MONSIGNORE MELCHIOR CONWAY GETRAGEN HATTE.
SIE NAHM DEN SAMTGÜRTEL IHRES LIEBLINGSMORGENROCKS ZUR HAND, STIEG AUF DEN SCHREIBTISCHSTUHL UND BAND EIN ENDE AM KRONLEUCHTER IN DER MITTE DER DECKE FEST. DAS ANDERE ENDE LEGTE SIE UM IHREN HALS. SIE PRÜFTE SORGFÄLTIG, OB BEIDE KNOTEN FEST ANGEZOGEN WAREN. ZURFIEDEN MIT DEM RESULTAT, SPRANG LORETTA VILLIERS CONWAY VON IHREM SCHREIBTISCHSTUHL. KEIN LAUT, KEIN ANGST-ODER SCHMERZENSSCHREI DURCHBRACH DIE STILLE WÄHREND LORETTAS KURZEM TODESKAMPF.
Vater Devlin starrte auf die letzten Worte, die Loretta Villiers Conway vor einem Jahrhundert geschrieben hatte. George Conway war also nicht der
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