Kind der Hölle
»Was ist denn schon dabei?«
»Du bist nicht mein Typ, kapiert?« erwiderte Kim mit kaltem Lächeln.
Sandy Engstrom fühlte sich durch Jareds Nähe verunsichert. Sie hatte ihn gesehen, sobald er zur Tür hereingekommen war, und als ihre Blicke sich trafen, hatte sie ein ganz seltsames Gefühl gehabt.
Er schien ihr auf den tiefsten Herzensgrund zu schauen.
Doch das war noch nicht alles. Er schien ihr Herz auch anzurühren. Ihr wurde heiß und kalt, und sie wußte, noch bevor Jared sich näherte, daß er sich neben sie setzen würde.
Und jetzt saß er wirklich dicht an ihrer Seite! Ihre Haut prickelte, und eine köstliche Hitze durchflutete ihren Körper.
Wenn Jared sie nun bat, mit ihm auszugehen? Sollte sie es tun?
Vor Erregung erschauernd, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.
Ich glaub’s nicht, dachte Kim, als Lukes Finger wieder ihr Bein berührten. Sie versetzte ihm einen so kräftigen Stoß, daß er fast von der Bank flog, und sprang auf. »Gehen wir!« forderte sie Sandy auf. »Die Pause ist in zehn Minuten zu Ende, und ich muß vorher noch zu den Schließfächern.«
»Warum so eilig?« protestierte Luke. »Wir sind doch gerade erst gekommen!«
»Dir ist es vielleicht egal, wenn wir geschnappt werden, mir aber nicht«, entgegnete Kim scharf. »Es war sowieso eine Schnapsidee herzukommen!« Ohne einen Blick zurückzuwerfen, hastete sie in Richtung Ausgang.
Sandy folgte ihr, drehte sich auf der Schwelle aber noch einmal um. Jared schaute ihr tief in die Augen, und sie hatte wieder das atemberaubende Gefühl, als bemächtigte er sich ihres Körpers und ihrer Seele.
Es ist fast wie ein Liebesspiel, dachte sie. Bei der Vorstellung eines Liebesspiels mit Jared bekam sie weiche Knie und einen hochroten Knopf, wovon Kim – die es eilig hatte – zum Glück nichts bemerkte.
Plötzlich konnte Sandy es kaum erwarten, bei den Conways zu übernachten.
Die Pizzeria hatte sich schon vor zwanzig Minuten fast geleert, aber Jared machte immer noch keine Anstalten aufzubrechen. Luke Roberts wurde allmählich nervös. Sehr nervös. Seit zehn Jahren, seit er als fünfjähriger Knirps in die Schule gekommen war, lebte er in ständiger Furcht vor dem Zorn der Nonnen. Seine erste Erfahrung mit ihren harten Strafmaßnahmen machte er, als er einem Freund, der hinter ihm saß, einen Kaugummi zusteckte. Schwester Katherine schlug ihm mit einem Lineal so fest auf die Finger, daß die Haut an den Knöcheln aufplatzte und blutete, und sie erlaubte ihm nicht einmal, ein Pflaster zu benutzen. »Wenn Jesus am Kreuz nicht um Heftpflaster gebeten hat, kannst du bei dieser lächerlichen Verletzung wohl auch darauf verzichten«, erklärte sie. Die Klasse kicherte über ihren Vergleich mit Jesus am Kreuz, aber ein strenger Blick von Schwester Katherine brachte alle sofort zum Schweigen, und Luke schämte sich, daß er vor Schmerz weinte, denn wenn Jesus nicht um ein Pflaster gebeten hatte, dann hatte Er bestimmt auch nicht geweint.
Luke hatte seine Lektion gelernt und nie wieder versucht, einen Kaugummi weiterzugeben.
Er hatte gelernt, während des Unterrichts nicht zu tuscheln.
Er hatte gelernt, daß man aufstehen mußte, wenn man aufgerufen wurde.
Und er hatte gelernt, nicht zu spät zu kommen.
Diesen Fehler hatte er einmal in der sechsten Klasse gemacht, als Schwester Michael seine Klassenlehrerin war. Schwester Mike, die einzige Nonne, die den Schülern erlaubte, ihren Namen abzukürzen, ließ ihn nachsitzen und an die Tafel schreiben:
Ich vergeude meine Zeit, wenn ich zu spät komme.
Ich vergeude die Zeit der Klassenkameraden, wenn ich zu spät komme.
Ich vergeude die Zeit von Schwester Michael, wenn ich zu spät komme.
Nachdem er diese drei Sätze hundertmal geschrieben hatte, war er nie wieder zu spät gekommen.
Bis heute! Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr, wurde von Jared aber trotzdem dabei ertappt. Als scharfer Beobachter konnte der Bursche es durchaus mit den Nonnen aufnehmen!
»Was ist los?« grinste Jared. »Hast du Angst, daß Schwester Clarence dich nachsitzen läßt?«
»Nein«, antwortete Luke viel zu schnell.
Jared schaute ihn spöttisch an. »Ich vergeude meine Zeit, wenn ich zu spät komme. Ich vergeude die Zeit der Klassenkameraden, wenn ich zu spät komme. Ich vergeude die Zeit von Schwester Michael, wenn ich zu spät komme«, leierte er die Sätze herunter, so als hätte er sie von der Tafel abgelesen.
Oder von meinem Gehirn, dachte Luke.
Woher konnte Jared das nur wissen?
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