Kind der Hölle
Gewiß, sie waren seit Wochen schier unzertrennlich … Hatte er seinem Freund irgendwann die Episode mit Schwester Mike erzählt?
Es mußte wohl so sein.
Aber er war sich so gut wie sicher, daß er es nicht getan hatte!
Woher wußte Jared es dann?
»Ich kann deine Gedanken lesen«, hatte er einmal gesagt – am Tag nach jenem Abend, als sie im Keller die Joints geraucht hatten, die bei Luke so seltsame Halluzinationen auslösten.
Halluzinationen, an die er sich noch heute – nach Wochen! – so lebhaft erinnerte, als hätte er das alles wirklich erlebt. Erst gestern hatte er sich kurz vor dem Einschlafen wieder eingebildet, die vollkommene Frau wäre bei ihm, würde seine Wange streicheln und ihre Finger über seinen Hals und Brustkorb zum Unterleib hinabgleiten lassen, bis sie …
»Vielleicht solltest du lieber aufs Klo gehen!« kommentierte Jared mit verständnisvollem Grinsen.
Luke bekam einen hochroten Kopf. Seine lüsternen Gedanken verflogen im Nu, als er wieder einen Blick auf die Uhr warf. Schwester Clarence bringt uns um, dachte er. Diesmal bringt sie uns wirklich um!
Jared zwinkerte ihm zu. »Gehen wir! Wir wollen doch nicht, daß Schwester Clarence uns umbringt, oder?« Lachend stand er auf und ging zur Tür.
Während Luke ihm folgte, fragte er sich wieder, ob es möglich war, daß Jared seine Gedanken lesen konnte.
Schwester Clarence verstummte mitten im Satz, als die beiden Jungen – Jared Conway voran – das Klassenzimmer betraten. Kalter Zorn stieg in ihr auf, während sie ihren neuen Schüler musterte, doch im nächsten Moment bat sie Gott – nicht zum erstenmal – um Vergebung. Ich weiß, daß ich alle Kinder lieben müßte, betete sie, aber ich kann Jared Conway einfach nicht lieben.
In den vergangenen sechs Wochen hatte sie oft darüber nachgedacht. Wenn sie spät abends allein in ihrer winzigen Zelle im zweiten Stock des Klosters nebenan war, fragte sie sich manchmal, ob nicht sie selbst an der Veränderung des Jungen schuld war. Vielleicht hatte sie ihn zu hart angepackt, als er seiner Schwester am ersten Tag einen Zettel zusteckte. Andererseits aber hatte sie schon vor Jahren gelernt, die schlechten Angewohnheiten von Schülern, die bisher eine öffentliche Schule besucht hatten, möglichst schnell zu bekämpfen. Daß von den Kindern nichts verlangt wurde, war der schlimmste Fehler an den öffentlichen Schulen, und leider Gottes waren die meisten Eltern genauso lasch wie die Lehrer. Doch hier, in St. Ignatius, wurde ein Mangel an geistiger, körperlicher oder moralischer Disziplin nicht geduldet, und deshalb hatte sie nicht gezögert, die Conway-Zwillinge gleich am ersten Tag energisch zu maßregeln. Und bei Kimberley hatte sie damit Erfolg gehabt. Das Mädchen paßte sich der Schulroutine erstaunlich gut an und schloß die richtigen Freundschaften – Sandy Engstrom gehörte zu Schwester Clarences Lieblingsschülerinnen.
Ganz anders der Junge … Nach außen hin war Jared Conway immer noch der hübsche Bursche, wie am ersten Tag seines Schulbesuchs.
Trotzdem hatte er sich seitdem verändert, und was Schwester Clarence am meisten bekümmerte, war die Tatsache, daß sie selbst nicht wußte, inwiefern er sich verändert hatte. Sie wußte nur, daß sie sich mittlerweile regelrecht gegen seinen Anblick wappnen mußte, und daß trotzdem jedesmal der Dämon des Zorns in ihr wütete, sobald er das Zimmer betrat. Sie kämpfte gegen diesen Dämon an, konnte ihn aber nicht besiegen. Ganz im Gegenteil, als sie Jareds negativen Einfluß auf Luke Roberts bemerkte, kochte sie vor Zorn.
Und jetzt waren die beiden Jungen zu spät zum Unterricht gekommen … In atemloser Stille wartete die ganze Klasse auf ihr Urteil.
Sie wollte gerecht sein.
Gerecht!
Er weiß, was ich denke. Er weiß es, und obwohl man es ihm nicht ansieht, lacht er mich aus! Mit äußerster Willenskraft bezwang Schwester Clarence den Dämon des Zorns.
»Spar dir die Mühe, Platz zu nehmen, Jared«, sagte sie, als er auf sein Pult zugehen wollte. »Und du genauso«, fügte sie an Luke gewandt hinzu, der so aussah, als würde er sich am liebsten im Erdboden verkriechen. Hingegen hielt Jared ihrem strengen Blick ungerührt stand. Nein, es war umgekehrt, gestand sie sich ein, sie selbst starrte wie hypnotisiert in seine Augen.
Eine Maus, die von einer Kobra hypnotisiert wird …
Zum erstenmal in all den Jahren, seit sie unterrichtete, fiel es schwer, Ruhe zu bewahren. »Ihr werdet euch sofort bei Vater Bernard melden.«
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