Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
trägt.
Du lügst, denkt er. Andrew, du lügst.
51
A m Morgen nach der fehlgeschlagenen Observierung fuhr ich nach Buxton hinaus. Ich hatte dort etwas zu erledigen.
Die Straße war breit und eben. Bis auf ein paar Autos, die mir auf der Fahrt begegneten, kam ich nur an Schildern vorbei, die Geschwindigkeitsbegrenzungen anzeigten, und an Reihen gleich aussehender Häuser: düstere Holzfronten mit verdunkelten Fenstern hinter den Zäunen. Mit jedem Luftzug wurde eine Staubwolke über den Asphalt gewirbelt. Der Himmel hing monoton herab: ein einziges, unversöhnliches Grau.
Als ich bei dem Haus ankam, das ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr aufgesucht hatte, jedenfalls nicht leibhaftig, fiel es gleich auf. Nicht nur wegen der diffusen, aber beängstigenden Vertrautheit, die ich bei seinem Anblick verspürte, sondern weil es sich von all den anderen, an denen ich vorbeigekommen war, so deutlich abhob. Mochten die Anwesen in der Nachbarschaft auch noch so heruntergekommen sein, sie waren wenigstens halbwegs bewohnbar. Dieses aber war eindeutig verfallen.
Ich hielt davor an. Als ich den Motor abstellte, war kein Geräusch zu hören, nicht einmal Vogelgezwitscher.
Ich betrachtete die verkommene Fassade. Der rote Anstrich war schon lange abgeblättert. In den Fenstern fehlten die Scheiben, so dass man einen freien Blick auf die sich ablösenden Tapeten in den nasskalten Räumen hatte.
Hier hatte einmal eine Familie gelebt.
Ein Mann, seine Frau und ihre beiden Söhne. Dem Vernehmen nach waren sie unbescholten. Niemand, der sie kannte, konnte Schlechtes über sie berichten. Niemand hätte von dieser Familie behauptet, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung sei. Sie hätten nicht damit gerechnet, dass sich die Saat der Gewalt tief in ihr Innerstes eingenistet hatte und nur darauf wartete aufzugehen.
Der Mann war ein ehemaliger Soldat, wegen einer Verletzung in den Ruhestand versetzt und deswegen natürlich ein wenig grob und verbittert. Er trank. Die Frau war verängstigt, nervös und unruhig, wodurch sie sich in nichts von anderen Familien in dieser Gegend unterschieden.
Die beiden Jungen aber …
Im Nachhinein erzählten einige Leute, dass sie ihnen unheimlich waren: zu ruhig, alle beide. Als bemühten sie sich, Stillschweigen über etwas zu bewahren. Als ob sie über etwas nichts sagen wollten oder konnten. Wenn sie Menschen ansahen, schienen sie sie nicht wahrzunehmen.
Und im Nachhinein fragten sich dieselben Leute möglicherweise, ob sie hätten erkennen müssen, dass mit dieser Familie etwas nicht stimmte. Ob sie etwas mehr hätten tun können, auch wenn es nicht üblich ist, etwas mehr zu tun, und schon gar nicht damals.
Aber das alles war lange her.
Soviel ich wusste, hatte hier niemand mehr gewohnt, seit das damals passiert war. Nicht im üblichen Sinne jedenfalls.
Schließlich stieg ich aus.
Mein Bruder war zwei Jahre älter als ich, aber kleiner und schwächer. Es war wirklich, als ob wir unterschiedliche Väter hätten, auch wenn ich nicht eine Sekunde glaube, dass das stimmt. John kam einfach nach ihm, während ich mehr die Züge meiner Mutter trug. Auch wenn das vielleicht eher Wunschdenken ist.
Jedenfalls meinte mein Bruder immer, mich beschützen zu müssen, weil er der Ältere war. Auch wenn er körperlich gar nicht in der Lage dazu war, verspürte er den inneren Drang, es zu tun, und dass er das nicht schaffte, nagte an ihm. Je mehr er unseren Vater hasste, desto mehr hasste er auch sich selbst, weil er nicht imstande war, sich ihm zu widersetzen. Wenn unser Vater sich darüber mokierte, dass er ein Schwächling und zu nichts zu gebrauchen war, traf ihn das sehr hart, weil er glaubte, es stimmte.
Aber trotz seines Hasses hatte John die Vorstellungen unseres Vaters übernommen, was es hieß, ein Mann zu sein. Er war davon überzeugt, dass er das in seinem Leben erlittene Leid begleichen konnte, indem er anderen Gewalt antat, um sich dadurch überlegener zu fühlen. Das war nicht die ganze Geschichte, warum er an dem Abend tat, was er tat, aber ein Teil davon.
In der Nacht, als mein Vater starb, erklärte ich dem Polizisten, der mich verhörte – Franklin –, dass ich in unserem Zimmer geblieben war: dass John hinuntergegangen war, den Waffenschrank selbst geöffnet, das Jagdgewehr allein hinaufgeholt hatte und dass ich nicht gesehen hatte, was sich danach im Schlafzimmer meiner Eltern abspielte.
Natürlich war das gelogen.
Der Waffenschrank war jetzt nicht mehr da, auch alles andere
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