Kind des Glücks
Kuchenkrümel aus dem Gartenhaus holte und sie ihnen auf der flachen Hand anbot, wie ich es schon viele Jahre nicht mehr getan hatte.
Als der Sonnenuntergang den Himmel über dem Garten meiner Eltern verdunkelte und meine kleinen Freunde sich immer noch nicht herabließen, zu mir zu kommen, versuchte ich mich zu erinnern, wann die kleine Moussa zum letztenmal einen ihrer Namensvettern in den kindlichen Händen gehalten hatte. Verdad, wann ich das letztemal liebevoll an die Moussas im Garten gedacht hatte.
Es wollte mir nicht einfallen. Dieses Versagen zeigte mir, daß sich nicht die Moussas von mir getrennt hatten, sondern daß ich mich von ihnen getrennt hatte, während das kleine Mädchen zu dem Wesen heranwuchs, das Stunden zuvor dem letzten Geliebten ihrer Kindheit ein liebevolles und sanftes Lebewohl gesagt hatte.
Im Augenblick dieses sehnsüchtigen Satori hielt eine kleine, goldene Gestalt einen Augenblick in einer freien Stelle zwischen den Ästen inne; den Schwanz als Stütze um einen Zweig geschlungen, stand das Moussa halb aufrecht, als wollte es unsicher die Haltung eines kleinen Menschen versuchen.
Oder war es Zufall? Einen langen Augenblick schienen sich die großen grünen Augen des Moussa in meine zu senken, als erinnerte es sich an meine Kinderzeit. Als wollte es sagen: Bon voyage, alte Freundin, möge dein Weg aufsteigen und dir begegnen. Als wollte es sagen: Beklage nicht, was war, sondern grüße das Kommende mit frohem Herzen und wisse, daß wir aus dem Garten deiner Kindheit dir wünschen, daß sich dein Herzenswunsch erfüllt. Trauere nicht um die kleine Moussa der Vergangenheit, denke manchmal an uns, wenn du da draußen zwischen den Sternen bist, und halte die Erinnerung in einer Kinderhand.
Und dann verschwand es mit einem leisen Zwitschern zum Abschied und mit ihm das kleine Mädchen, das so gern im Garten ihrer Eltern bleiben wollte – denn in diesem Augenblick hatte das Wanderjahr meines Geistes begonnen.
3
An diesem Abend speisten meine Mutter, mein Vater und ich en famille auf der Veranda im ersten Stock, die Rioville überblickte, den Fluß und die spiegelnden Türme am Westufer und die Oberstadt, die sich über dem Ufer erhob. An das Fleisch und das Gemüse, an die Weine und Saucen und Desserts kann ich mich nicht erinnern, denn ich war mit mir selbst beschäftigt, völlig überwältigt von meiner plötzlichen Entschlossenheit und zugleich zitternd bei dem Gedanken, alles, was ich kannte, zu verlassen – und um die Wahrheit zu sagen, war ich mir der verschwenderischen Großzügigkeit meiner Eltern gar nicht so sicher, wie ich es Davi vorgemacht hatte. So dachte ich während der ersten Gänge über verschiedene Strategien nach, um möglichst viel herauszuholen, und probte im stillen die Erklärung, die kommen mußte, ehe die Süßigkeiten serviert wurden. Ich war so sehr vom Essen abgelenkt, daß ich mit verwunderten Blicken bedacht wurde.
Sin embargo – ich erinnere mich genau an den Anblick der Sonne, die hinter den Lichtern der Oberstadt in ein Nest purpurner Wolken sank, an die Sterne, die aus dem halb bedeckten Himmel lugten, während es dunkler wurde, an die Nebelbank, die von See her das Blinken und Blitzen Riovilles in einen leichten Schleier hüllte, an die tanzenden Boote, die durch die schäumenden kleinen Wellen stromauf fuhren, an die doppelte Spiegelung des Sonnenuntergangs auf dem Wasser – es sah aus, als wäre mir ein Holo der Szenerie für die Verkündung meiner Absicht in die Gehirnzellen gebrannt.
Und so verbinde ich bis heute mit dem Moschusduft des Dschungels, dem schweren Geruch eines Flußufers, dem Duft einer großen Stadt, der nachts über einer Nebelbank aufsteigt, die Erinnerung an meine innere Stimmung, die genaue sinnliche Erinnerung an das Gefühl, an jenem Abend in meinem Mädchenkörper zu stecken – die Ruhe in meinen gesättigten Lenden, die Spannung im Bauch, das Adrenalin, das durch meinen Kreislauf raste –, bis ich schließlich den Mut fand, meiner neuen Lebensanschauung eine Stimme zu verleihen.
»Ich habe etwas sehr Wichtiges mit euch… ich meine, ich glaube, daß es Zeit ist… mir geht da etwas im Kopf herum…«
»Das haben wir uns schon gedacht, als wir sahen, wie du an deinem Essen herumgestochert hast«, sagte meine Mutter, während sie einen belustigten Blick mit meinem Vater wechselte.
»Komm schon, raus damit, Moussa«, verlangte mein Vater. »Diese Zurückhaltung entspricht gar nicht deinem sonstigen
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