Kinder der Dunkelheit
heftig. Vorsichtig hob er die Hände an sein Gesicht und betastete es ängstlich. Seine Hände fanden aber nur glatte, unversehrte Haut und er ließ sie erleichtert wieder sinken.
Raffaele hatte ihn beobachtet und ihm war klar, wonach er gesucht hatte. „Hab keine Angst, du hast keine Narben, alles ist verheilt, als sei dort niemals etwas gewesen. Allerdings haben die tiefen Schnitte zwei Tage gebraucht, bis sie sich wieder schlossen und verblassten. Dieser Ricardo und seine Männer haben ganze Arbeit geleistet, doch du kannst beruhigt sein, die Wunden deines ganzen Körpers sind vollkommen verheilt.“
Mohammed war zutiefst verwundert. „Wie können Wunden, so wie ich sie hatte, einfach verschwinden, ohne eine Narbe zu hinterlassen ?“
Raffaele zuckte nur die Schultern. „Das, mein Junge, ist eines der vielen guten Dinge, die unser Blut bewirken kann. Es heilt nicht nur Wunden, es lässt sie zuerst abheilen, dann die entsta ndenen Narben verblassen und schließlich gänzlich verschwinden. Wenn ich dich jetzt so ansehe, dann hat es sich wahrlich gelohnt. Daher darf ich vielleicht doch endlich sagen: Willkommen in deinem neuen Leben, mein Junge.“
Noch immer zutiefst verunsichert, aber durch die Freundlic hkeit, die Ernsthaftigkeit und die Offenheit Raffaeles schon etwas gefestigter, wagte Mohammed, seinem Retter eine weitere Frage zu stellen.
„Raffaele, da Ihr mich doch nun kennt, warum sprecht Ihr mich nicht mit meinem Namen an? Ich würde Euch wirklich darum bitten, so kann ich zumindest in meinem Kopf an mein altes Leben anschließen.“
Raffaele schwieg länger als sonst, ehe er, sorgsam nach den richtigen Worten suchend, antwortete. „Es gibt gute Gründe, warum ich das nicht tue. Bitte glaube nicht, dass ich es aus Missachtung vor deinem alten Leben tue, nein, das ist sicherlich nicht der Fall. Du und deine Familie, deine Vorfahren, ihr alle habt meinen größten Respekt und meine Hochachtung. Du aber bist hier an diesem Strand heute Nacht in einem neuen Leben erwacht. Alles hat sich für dich geändert. Dazu, dein neues Leben anzunehmen, gehört noch etwas sehr Wichtiges. Du musst auch deinen alten Namen zurücklassen, genauso, wie du dein altes Ich hinter dir lassen musst. Noch hast du eine letzte Frist, denn es ist so vieles, das über dich hereinstürzt. Doch sobald du deine Kräfte wieder ganz zurückgewonnen, sobald du hier alles in deinem Sinne abgeschlossen hast, wirst du mit einem neuen Namen in deine Zukunft gehen.“
Mohammed dachte über diese Worte lange nach, erst dann formulierte er seine nächste Frage: „Ist das immer nötig, den Namen, der so lange das eigene Leben und Denken ausmachte, abzulegen und damit einen Teil von sich selbst aufzugeben?“
„Nein, nicht immer. Doch wenn das Ende des alten Lebens in solch grausamer Weise herbeigeführt wurde, wie es bei dir der Fall war, dann ja. Du sollst, nein, du muss t sogar vergessen. Nur dann kannst du dich einem glücklichen, neuen Leben auch wirklich öffnen. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche. Dein neuer Name öffnet die Tore zu einem neuen Leben.“
Wenn auch ungern, so musste Mohammed doch zugeben, dass Raffaele recht hatte. Seine Name würde ihn auf ewig an all das erinnern, was hier geschehen war, an alles Schöne, doch auch an die Schrecken der letzten Tage. Wenn er ehrlich zu sich war, so überwog derzeit das Gute bei Weitem. Auch wusste er, dass er die positiven Erinnerungen immer in seinem Herzen tragen würde, ganz egal, wie von nun an sein Name lautete. Die Liebe für diejenigen, welche in jener Nacht ihr Leben gelassen hatten, würde ihn überallhin begleiten.
Mohammed wurde durch einen erfreuten Ausruf Raffaeles aus seinen Grübeleien gerissen. „Endlich, dort kommt Vittorio! Ich bin neugierig, ob er noch etwas Neues herausfinden konnte.“
Obwohl Mohammed noch immer recht müde und erschöpft war, wandte er doch voller Neugierde den Kopf, um den Neuankömmling sehen zu können. Aus der langsam vom Schwarz der Nacht ins Grau des ersten trüben Morgens übergehenden Dunkelheit schälte sich eine große, schlanke Gestalt, die rasch über den Strand zu ihrer Höhle kam.
Vittorio war, ebenso wie Raffaele, eine höchst eindrucksvolle Erscheinung. Dichtes schwarzes Haar, nur von wenigen silbergrauen Strähnen durchzogen, fiel auch ihm bis über die Schultern. Sein kantiges Gesicht wurde von den hellgrauen Augen dominiert , die sich sofort voller Sorge auf Mohammed richteten. Sein kurz gestutzter schwarzer
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