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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Gunder und Dorotheri, und ihre Lippen bewegen sich synchron, »war es uns so bestimmt.«
    »Philosophischer Unsinn«, knurrt Caleb. »Er hätte mich die Kontrolle übernehmen lassen sollen. Dann wäre es nicht so weit gekommen.«
    Die anderen sprechen ebenfalls, und ihre Stimmen werden zu dem unverständlichen Flüstern, das Esebian oft in sich gehört hat. Und während sie sprechen und leise streiten, verändern sie sich. Gunder und Dorotheri, die sich immer sehr ähnelten, verschmelzen miteinander, ebenso andere Subidentitäten mit geringen Unterschieden. Als die Personen seines Lebens, deren Gedanken und Gefühle sich in ähnlichen Bahnen bewegen, eins geworden sind, rücken die anderen vom dunklen Ende des Tisches nach. Ein Knistern liegt in der Luft, und die Lebensflamme brennt etwas heller, als sich die Verschmelzung bei jenen fortsetzt, zwischen denen es größere Unterschiede gibt. Der misstrauische Kyrill, der eben noch neben Caleb saß, verschwindet in ihm, gefolgt vom Techniker Yrthmo. Evan Ten-Ten beugt sich zu Talanna, und sie nimmt ihn auf. Kossen und Beiken, Orizabal, Gacusan, Conelly, Dhosane, Forbisch, Biewald, Dotras und die anderen, deren Namen er fast vergessen hat, weil sie nur zwei oder drei Jahre seines Lebens beansprucht haben, oder noch weniger – sie erscheinen kurz, als wollten sie Esebian ein letztes Mal grüßen und sich von ihm verabschieden. Schließlich sitzen nur noch der wütende Caleb da, nach wie vor mit geballten Fäusten, und Talanna, die damals, wie sich Esebian erinnert, ein Experiment gewesen ist: eine letzte grundlegende biostrukturelle Veränderung, bevor die nächsten Etappen des Weges zur Unsterblichkeit so etwas unmöglich machten. Er erinnert sich daran, als Talanna damals mit dem Gedanken gespielt hatte, ein Kind zu bekommen und direkt, am eigenen Leib, zu erfahren, was es bedeutet, Mutter zu sein. Eine Mutter wie Ayanne.
    »Es ist so weit«, sagt Talanna und steht auf. Sie trägt ein lapislazuliblaues Gewand, und bei ihren Bewegungen knistert es wie vorher bei den Verschmelzungen der anderen Personen. »Früher oder später musste es dazu kommen.«
    »Wozu?«, bringt Esebian hervor.
    Sie tritt auf ihn zu, so nahe, dass sie mit dem Zeigefinger seinen Mund berühren kann. Der Kontakt vermittelt einen Eindruck von Wehmut.
    »Reife, Esebian.«
    Am Tisch schnaubt Caleb: »Reife im Moment des Todes? Wer kann damit etwas anfangen?«
    »Die Zeit ist relativ«, sagt Talanna, und ihr Blick bleibt dabei auf Esebian gerichtet. »Ihre Dauer hängt von der subjektiven Wahrnehmung ab. Reife, Esebian«, wiederholt sie. »Du siehst uns nicht mehr als von dir getrennt und bist endlich bereit, uns als Teil von dir zu akzeptieren. Als Esebian bist du vor uns weggelaufen. Du wolltest kein Mörder mehr sein.«
    »Was?«, krächzt Esebian und beobachtet die Lebensflamme über dem Tisch. Sie beginnt zu flackern, und das hat etwas zu bedeuten.
    »Nur wir sind übrig, Caleb und ich, die beiden Aspekte deines Lebens, die den größten Kontrast aufweisen. Und wenn wir beide ebenfalls verschwinden … Dann bist du zum ersten Mal ganz du selbst.«
    »Was soll dies alles?«, fragt Esebian hilflos. »Ich verstehe nicht …«
    Aber dann versteht er doch, zumindest einen Teil, ein winziges Bruchstück von dem, was hier nach fünfundzwanzig Jahrzehnten Leben an Erkenntnis auf ihn wartet, und während die Flamme des Lebens stärker flackert und Schatten über die Wände huschen lässt, macht er einige taumelnde Schritte nach vorn. »Hilf mir!«
    Caleb starrt ihn an. »Jetzt willst du meine Hilfe?«
    Der Moment, bis zum Zerreißen in der Zeit gedehnt, geht zu Ende. »Ich brauche deine Hilfe. Es ist noch nicht vorbei …«
    Die Flamme – sie flackert ein letztes Mal und erlischt. Aber trotz der Stahlblenden vor Fenstern und Türen wird es nicht völlig dunkel. Ein Licht bleibt, und es stammt von einer Lampe.
     
     
    Das Licht blendete, als Esebian die Lider hob; er wollte sich mit der linken Hand die Augen abschirmen. Dann fiel ihm ein, dass der linke Arm eine Prothese war, und die generelle Schwäche machte ihn so schwer, dass er sich nicht bewegen ließ. Die Konverterzellen, erinnerte er sich. Entladen.
    »Er kommt zu sich, Vater«, erklang die Stimme einer Frau.
    Das Licht glitt zur Seite, und Esebian öffnete die Augen. Er lag am Rand einer Höhle mit langen, terrassenartigen Vorsprüngen an geriffelten Wänden. Oben in der Decke zeigte sich eine dunkle Öffnung, und plötzlich erinnerte er sich an

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