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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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kontinentschwere Last werden. Wie hielten sie ihr Bewusstsein stabil? Welche Geheimnisse gab es auf den Einundzwanzig Hohen Welten, abgesehen von denen eines Lebens ohne Ende?
    Esebian fragte sich – auch das nicht zum ersten Mal –, ob sie Furcht kannten wie er, ob sie manchmal mit sich selbst haderten. Oder hatten sie das alles zusammen mit dem Tod besiegt?
    Er begriff, dass diese Gedanken die Rückkehr in den emotionalen Sumpf ankündigten, in dem er manchmal zu versinken drohte, wenn er nicht genau darauf achtete, wohin er den Fuß setzte. Es war ein gefährliches Terrain, oft voller Zweifel und quälender Fragen. Ihnen zu entkommen … Das war sein Hauptgrund dafür, die verschiedenen Leben voneinander zu trennen. Erinnerungen überlappten sich, und die damit zusammenhängenden Gefühle warfen Schatten in andere Lebensphasen, aber damit kam er gut zurecht. Die Trennung ermöglichte es ihm, den sicheren Weg um den Sumpf zu beschreiten.
    Jetzt zwangen ihn die Umstände zurück in die Zeit vor den letzten zwanzig Jahren. Esebian, seit mehr als zweihundert Jahren auf der Flucht vor dem Tod, starrte auf die in der Interface-Mulde liegenden Hände und wusste genau, wie oft und auf welche Weise sie getötet hatten.
    »Es tut mir leid«, sagte Gunder sanft.
    Esebian hob den Blick. Mehr als ein Dutzend Gesichter blickten von den Wänden des privaten Raums, einige von ihnen nicht mehr als die vagen Schlieren halb ausgeprägter Persönlichkeiten, andere plastisch und voller Einzelheiten. Am deutlichsten waren jene mit den Eigenschaften, die in den fünfundzwanzig Jahrzehnten seines Lebens besonders viel Raum in ihm gewonnen hatten: der einfühlsame Philosoph Gunder, immer auf der Suche nach dem Sinn; der technisch versierte Yrthmo, der seinen Einfallsreichtum bei einigen der schwierigsten Aufträge gezeigt hatte; der kalte, berechnende Caleb, der sich nicht mit irgendwelchen Bedenken belastete und für Gunder oft nur Spott übrig hatte; der neugierige, fragende und forschende Dorotheri, auf dem Esebians gelassene Grundhaltung basierte; der misstrauische, argwöhnische Kyrill, der ständig nach Feinden Ausschau hielt und sich selbst an seiner Fähigkeit maß, Probleme zu lösen; der nachdenkliche, in sich gekehrte Evan Ten-Ten, der manchmal mit Gunder verschmolz, diesmal aber eine deutlich eigenständige Ausprägung gewonnen hatte, vielleicht deshalb, weil sich Esebian nach Ruhe sehnte, nach einem Ort, an dem er Platz nehmen, sich zurücklehnen und den vorbeiziehenden Strom der Zeit beobachten konnte, ohne von ihm betroffen zu sein. Nur zwei Therapien und die Stufe Resident trennten ihn von der Unsterblichkeit auf den Hohen Welten.
    »Genau darum geht es«, sagte Caleb mit einer Schärfe, die Esebian überraschte. »Um unser Ziel. Und das ist jetzt sehr nahe. Wir sollten in Tirrhels Angebot eine Chance sehen. Wir alle haben gehört, was er versprochen hat.«
    Esebians Blick strich auch über die anderen Gesichter, manche nicht mehr als grauweiße Schlieren in den Wandsegmenten, richtete sich dann auf Caleb den Mörder. »Wir haben entschieden, nicht mehr zu töten, erinnerst du dich? Vor zwanzig Jahren.«
    »Ich war dagegen«, erwiderte Caleb mit einer Kälte, die Esebian frösteln ließ. Er sah in die grauen Augen, die ihm so fremd erschienen und doch seine eigenen Augen waren; tief in ihnen glaubte er so etwas wie grimmige Zufriedenheit zu erkennen. Freute sich Caleb auf eine Rückkehr zum alten Leben?
    »Wir müssen tun, was getan werden muss«, sagte Caleb. »Uns bleibt keine Wahl.«
    »Vielleicht ist es eine Falle«, gab der argwöhnische Kyrill zu bedenken.
    »Tirrhel kennt uns bereits«, entgegnete Esebian. »Er weiß alles über uns.«
    »Und wenn nicht wirklich alles, so doch genug«, sagte Dorotheri. Die aus den Wandsegmenten blickenden Personen sahen aus wie Esebian: fast hohlwangig, die Nase lang und gerade, die Augen bleifarben, in den Wangen die kaum erkennbaren dünnen Linien von Nanosensoren; die Stirn hoch, von dünnen Falten durchzogen, das Haar kurz und so grau wie die Augen. Und doch gab es zahlreiche Unterschiede: die Lippen hier ein wenig verzogen, dort ein Blitzen in den Augen, Gesichtsmuskeln, die den Zügen verschiedene Strukturen gaben. Das Alter variierte. Gunder war mit seinen etwa siebzig Scheinjahren der Älteste, Evan Ten-Ten mit seinen dreißig der Jüngste. Der Caleb an der Wand wirkte etwas jünger als der in Esebians Erinnerung, vielleicht ein Hinweis auf die wachsende Kraft seiner

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