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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Kompatibilitätsproblemen kam. Einige Male, vor vielen Jahren, war es ihm gelungen, mit einem speziell programmierten Crawler die Schranken des Poseidons und der Klerikalen zu passieren und ihre Informationssubsysteme zu kontaktieren, doch so etwas erforderte erheblichen Aufwand.
    »Ich glaube, hier ist mehr Aufwand nötig«, sagte Caleb. »Mit einem gewöhnlichen Crawler kommen wir nicht weiter.«
    Esebian hörte ihn, als er die Meldung des Crawlers empfing. Sie lautete schlicht und einfach: keine Daten. Tirrhels Weg ließ sich nicht zurückverfolgen.
    »Kein Mensch«, wiederholte Caleb. »Ich spüre es.«
    »Ein Polymorpher aus dem Kongress?«, murmelte Esebian. »Aber warum sollten sich Kongressler den Tod eines Erlauchten wünschen? Was hätten sie davon?«
    Tirrhel hatte keine DNS-Spuren im Haus hinterlassen, und allein das war erstaunlich genug. Das eine oder andere Haar, Hautpartikel, Schweiß- und Atemluftmoleküle – jeder Besucher, ob belebt oder unbelebt, ließ etwas zurück. Nicht so Tirrhel.
    »Sehen wir uns noch einmal an, wie er verschwunden ist«, sagte Caleb, der natürlich über die gleichen Erinnerungen verfügte wie Esebian. »Und dann weck die anderen. Sie haben lange genug gewartet. Weck uns alle.«
    »Du weißt, was dich dann erwartet, nicht wahr?«, fragte Gunder mit seiner sanften, oft ein wenig melancholisch klingenden Stimme.
    »Ja.« Esebians Aufmerksamkeit kehrte zu den Aufzeichnungen zurück, und er sah und hörte:
    »In spätestens zwanzig Stunden erwarte ich Ihre Entscheidung.« Der Fremde legte eine kleine Scheibe auf den Tisch, stand auf und ging zur Tür. Die dortigen Sicherheitsbarrieren waren noch immer aktiv, aber auch richtungsorientiert – sie reagierten auf niemanden, der das Haus verließ. Tirrhel passierte sie, als existierten sie gar nicht. Esebian zögerte zwei oder drei Sekunden, noch immer schockiert, drehte sich dann um und eilte ebenfalls nach draußen. Am Anlegesteg vor dem Haus wartete nur der kleine Transporter, der ihn von den Forschungsstationen zurückgebracht hatte.
    Und Tirrhel war nicht mehr da. Esebian beobachtete, wie er sich verwundert umsah, und er hörte, wie er das Haus befragte.
    »Kein Flugverkehr in der Nähe des Hauses«, erklang erneut Calebs Stimme. »Und keine Orbitalspringer weiter oben am Himmel.«
    »Ein Transferitor«, spekulierte jemand anders. »Vielleicht hat Tirrhel einen getarnten Noder vor dem Haus zurückgelassen und ihn aktiviert, kaum dass er draußen war.«
    Esebian blinzelte, und sein Blick kehrte in den privaten Raum zurück. An der Wand hatte sich ein drittes Gesicht gebildet, noch ebenso vage wie das von Gunder: Yrthmo, Technikspezialist.
    »Es erklärt nicht, wie er ins Haus gelangen konnte, ohne einen Alarm auszulösen«, sagte Caleb. »Und es beantwortet nicht die Frage, wieso er überhaupt keine Spuren zurückgelassen hat. Ich glaube, es gibt nur eine Erklärung. Du ahnst es bereits, nicht wahr, Esebian?«
    »Ein Avatar«, erwiderte er langsam und nachdenklich.
    Caleb nickte ernst. »Und kein gewöhnlicher. Hol uns jetzt zurück. Diese Sache ist wichtig. Es geht um unser Leben.«

 
3
     
    Ein Avatar, dachte Esebian, und auf diesen Gedanken konzentrierte er sich, als er die inneren Türen öffnete und das Haus des Lebens, das er die letzten zwanzig Jahre allein bewohnt hatte, mit den anderen Persönlichkeiten teilte. Er war sie, und sie waren er: die Leben, die er geführt hatte, seine Identitäten; bestimmte Eigenschaften waren in den Vordergrund geschoben, andere in den Hintergrund gerückt worden. Ein Mahlstrom aus Erinnerungen erfasste ihn, als alles zurückkehrte, die Reminiszenzen einer zweieinhalb Jahrhunderte langen Existenz. Das war einer der Gründe für die Trennung von Identitätsphasen: Es wurde zu viel. All die Sinneseindrücke im Lauf der Jahre, Gespräche, Erlebnisse, Erfahrungen, Emotionen … Das automatische Aussortieren von Banalem und Unwichtigem geriet durcheinander, wenn sich die Archive des Gedächtnisses immer mehr füllten. Individuelle Wünsche und Hoffnungen verschoben die Perspektiven, und manchmal gewannen Möglichkeiten den Status von Erlebtem, und Geträumtes transformierte sich zu scheinbarer Realität. Esebian hatte sich oft gefragt, wie die Erlauchten damit fertigwurden. Manche von ihnen sollten fast siebentausend Jahre alt sein, und wenn Esebian die eigenen Erinnerungen für einen Berg hielt, unter dessen Gewicht sein Gedächtnis stöhnte, so musste für die Unsterblichen daraus eine

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