Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
einen Schritt vorwärts.
    Der größere Mann bellte etwas, während das rumänische Elternpaar zu schreien und die Amerikanerin zu weinen anfingen. O'Rourke gab das Handgelenk des ersten Führers frei, und Kate konnte sehen, wie der große Mann stöhnte und die Finger spannte. Er fauchte noch etwas, worauf sein kleinerer Gefährte das Messer wegsteckte und die verwirrten Amerikaner aus der Wohnung scheuchte; die Prozession hastete an Kate unter der Tür vorbei, als wäre diese gar nicht da. Die Kinder in der Wohnung weinten, ebenso die Zigeunerin. Der Vater stand da und rieb sich die stoppeligen Wangen, als wäre er geschlagen worden.
    »Îmi pare foarte rău«, sagte O'Rourke zu dem Zigeunerpaar, und Kate verstand: Es tut mir sehr leid. »Noapte bună«, fügte er hinzu, während er die Wohnung verließ. Gute Nacht.
    Die Tür fiel ins Schloß; er sah Kate an, die daneben stand.
    »Möchten Sie die Amerikaner nicht erwischen?« sagte sie. »Sie zwingen, mit uns nach Bukarest zurückzufahren?«
    »Warum?«
    »Sie werden mit diesen ... diesen Dreckskerlen einfach anderswo hingehen. Letztendlich werden sie einfach ein anderes Kind aus seinem Bett stehlen.«
    O'Rourke schüttelte den Kopf. »Heute abend nicht, das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben den Rhythmus ihres Abends sozusagen gestört. Ich werde die Amerikaner morgen im Lido besuchen.«
    Kate sah in das dunkle Treppenhaus. »Haben Sie keine Angst, daß einer dieser Schurken oder beide Ihnen auflauern?«
    Sie hatte den Eindruck, als könnte der Priester das freudige Grinsen bei diesem Gedanken nicht unterdrücken. Sie sah ihn an, während er sich das Lächeln vom Gesicht wischte. »Das glaube ich nicht«, sagte er leise, mit nur einer Spur von Bedauern. »Die werden zu sehr damit beschäftigt sein, ihre Schäfchen nach Hause zu treiben, sie zu beruhigen und einen neuen Verkauf anzukurbeln.«
    Kate schüttelte den Kopf und ging mit ihm die Treppe hinunter, aus dem Gebäude hinaus, in dem es nach Knoblauch, Urin und Hoffnungslosigkeit roch.
     
    Obwohl sie beide erschöpft waren, unterhielten sie sich auf der Rückfahrt nach Bukarest weiter. Der Dacia erbebte förmlich unter dem Knirschen des Getriebes, mechanischem Stöhnen, quietschenden Federn und Luft, die selbst durch die hochgekurbelten Fenster pfiff, aber sie sprachen einfach lauter miteinander.
    »Ich wußte, daß die meisten Amerikaner letztendlich für gesunde Kinder bezahlen«, sagte Kate. »Aber ich wußte nicht, daß sich die Einkaufsbummel derart zynisch gestalten.«
    O'Rourke nickte, wandte den Blick aber nicht von der dunklen Straße ab. Piteşti bestand aus einer Flammenmauer, die hinter ihnen zurückblieb. »Sie sollten einmal dabeisein, wenn sie sie in eines der ärmeren Zigeunerdörfer führen«, sagte er leise. »Da wird es zu einer Auktion ... zu einem regelrechten Aufstand.«
    »Demnach konzentrieren sie sich auf Zigeuner?« Kate hörte, daß ihre Stimme vor lauter Erschöpfung belegt klang. Sie stellte fest, daß sie sich nach einer Zigarette sehnte, obwohl sie nicht mehr rauchte, seit sie ein Teenager gewesen war.
    »Meistens. Diese Leute sind arm genug, verzweifelt genug und gehen nicht so leicht zu den Behörden wie andere, wenn sie bedroht werden.«
    Kate sah zur Seite, wo die kümmerlichen Lichter eines einen oder zwei Kilometer von der Straße entfernt gelegenen Dorfes zu sehen waren. Sie hatte während der Fahrt nach Westen jeden Kilometer oder zwei mindestens ein Auto- oder LKW-Wrack gesehen. »Adoptieren diese wiedergeborenen Amerikaner überhaupt je aus den Waisenhäusern?«
    »Ab und zu«, sagte der Priester. »Aber Sie kennen die Schwierigkeiten ja.«
    Kate nickte. »Die Hälfte der Kinder ist krank. Die anderen sind überwiegend zurückgeblieben oder emotional verkrüppelt. Die amerikanische Botschaft gewährt den kranken Kindern kein Visum.« Sie lachte und war betroffen, wie schroff es sich anhörte. »Was für eine Scheiße.«
    »Ja«, sagte O'Rourke.
    Plötzlich erzählte Kate dem Priester von den Kindern, denen sie helfen wollte, den Kindern, die aufgrund unzureichender medizinischer Versorgung gestorben waren, aufgrund fehlender Medikamente und aufgrund mangelnder Anteilnahme und Kompetenz des rumänischen Krankenhauspersonals. Sie erzählte ihm von dem Baby auf der Isolierstation des Krankenhauses im Bezirk Eins; dem ausgesetzten, namenlosen, hilflosen kleinen Jungen, der auf Transfusionen ansprach, aber kurz darauf wieder von einem Defekt des Immunsystems verzehrt

Weitere Kostenlose Bücher