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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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anordnen, dachte sie. Die letzte Transfusion hatte nur ganze fünf Tage eine Besserung gebracht.
    Das winzige Baby in ihren Armen richtete den Blick auf sie und hörte auf zu weinen. Es war so winzig, daß es sieben Wochen hätte alt sein können, statt sieben Monate. Die Haut seiner kleinen Hände und winzigen Füßchen war rosa und fast durchsichtig. Seine Augen dagegen waren sehr groß. Es sah Kate durchdringend an, als erwarte es eine Antwort auf eine uralte Frage.
    Kate holte das Fläschchen heraus, das sie warm gemacht hatte, bevor sie hereingekommen war, und suchte den kleinen Mund mit dem Schnuller. Das Kind wandte sich mehrmals ab und weigerte sich, aber jedesmal fiel der Blick wieder auf sie. Kate stellte die Flasche auf den Fenstersims und wiegte es einfach weiter. Das Baby machte langsam die Augen zu, das hektische Atmen ging in die langsamen Atemzüge des Schlafs über.
    Sie wiegte es sanft und sang dabei ein Schlummerlied, das ihre Mutter schon ihr selbst vorgesungen hatte.
     
    »Hush little baby don't say a word
    Mama's gonna buy you a mockingbird.
    And if that mockingbird won't sing,
    Mama's gonna buy you a diamond ring ...«
     
    Plötzlich verstummte Kate und hob das Gesicht des Kindes an ihres. Sie nahm den Babygeruch seiner Haut wahr und spürte das unendlich weiche schwarze Haar. Sein Atem an ihrer Wange war warm und schnell; sie konnte das leise Ächzen und Piepsen hören, wenn es einatmete.
    »Keine Bange, Joshua«, flüsterte sie und wiegte den Jungen weiter. »Keine Bange, kleiner Joshua. Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas Schlimmes widerfährt. Ich werde dich nicht im Stich lassen.«
    Am nächsten Morgen ging Kate nach einer sechzehnstündigen Schicht und nur drei Stunden Schlaf zum entsprechenden Ministerium in der Innenstadt und begann den endlosen Papierkram für die Adoption.
     
    Lucian Forsea, ihr junger Freund und Dolmetscher, empfing sie auf der Treppe des Krankenhauses, als sie am Nachmittag zurückkehrte. Er kam mit offenen Armen die Treppe herunter, umarmte sie heftig, gab ihr einen Schmatz auf die Wange und wich zurück. »Also ist es wahr?« fragte er. »Sie adoptieren das Kind in der Isolierstation Drei?«
    Kate starrte ihn nur an. Sie hatte niemanden im Krankenhaus informiert. Sie hatte heute morgen nur mit den Beamten des Ministeriums darüber gesprochen. Aber so etwas hatte sie in Bukarest schon erlebt: Alle schienen alles zu wissen, sobald es passierte. »Es stimmt«, sagte sie.
    Lucian grinste und umarmte sie wieder.
    Kate mußte lächeln. Der rumänische Medizinstudent war Mitte Zwanzig, aber sie hätte ihn nie und nimmer für einen Rumänen noch für einen Medizinstudenten gehalten. Heute trug Lucian ein Reyn-Spooner-Hawaiihemd mit riesigen pinkfarbenen Blumen, Calvin-Klein-Jeans (stone-washed) und Nike-Turnschuhe. Das Haar hatte er sorgfältig in einem Stil geschnitten, der hart an Punk grenzte, und am Handgelenk trug er eine teure, aber nicht übertrieben protzige Rolex. Lucians Gesicht war zu braungebrannt für einen Medizinstudenten, die Augen zu klar und offen für einen Rumänen, sein Englisch zu fließend und blumig. Kate dachte oft, daß Lucian, wäre sie fünfzehn Jahre jünger, vielleicht auch nur zehn, eine ungeheure Faszination auf sie ausüben würde. So aber war er nur ein guter Freund in diesem seltsamen, traurigen Land.
    »Toll!« sagte er und grinste immer noch angesichts der Tatsache, daß sie bald Mutter werden würde. »Wenn wir beide heiraten, haben wir schon ein Kind ohne die ganze Arbeit und Wartezeit. Ich habe schon immer gesagt, daß Polaroid einmal ins Babygeschäft einsteigen sollte.«
    Kate stieß ihn mit der Hand an der Brust an. »Hör auf«, sagte sie. »Wie waren deine Abschlußprüfungen?«
    »Meine Abschlußprüfungen sind abschließend abgeschlossen«, sagte Lucian. Er hakte sich bei ihr unter und ging mit ihr die Treppe hinauf. »Schildern Sie mir Ihre Erlebnisse im Ministerium. Hat man Sie stundenlang warten lassen?«
    »Selbstverständlich.« Sie betraten durch die hohe Tür die düstere und hallende Lobby des Krankenhauses Distrikt Eins. Wartende Patientenanwärter saßen auf Bänken in dem langen Flur. Rollbetten mit schlafenden oder komatösen Patienten standen unbeobachtet da wie in zweiter Reihe geparkte Autos. Die Luft roch nach Äther und den unterschiedlichsten Medikamenten.
    »Und nachdem Sie die Anträge ausgefüllt hatten, hat man Sie wieder Stunden warten lassen?« Lucians blaue Augen sahen sie mit einer Mischung

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