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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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aus Heiterkeit und ... was? ... Zuneigung? Liebe? an. Kate verwarf den Gedanken.
    »Eigentlich nicht«, sagte sie und verstummte, als ihr das erstmals bewußt wurde. »Nachdem ich alle Anträge ausgefüllt hatte, waren sie überaus zuvorkommend. Ich hatte nur mit einem einzigen Mann zu tun. Er sagte, er würde alles Weitere veranlassen, und mir ist eben erst aufgefallen, daß er das auch getan hat. Seltsam, nicht?«
    Lucian machte ein komisches Gesicht. Kate dachte sich manchmal, daß der junge Mann einen besseren Komiker als Arzt abgeben würde, weil er so geistreich und seine Gesichtszüge so beweglich waren. »Seltsam!« rief er. »Das ist beispiellos! Unerhört! Ein arbeitsamer Beamter in Bukarest ... mein Gott! Als nächstes werden Sie mir noch erzählen, daß es einen wahren Patrioten in der Nationalen Rettungsfront gibt!« Lucian hatte die Stimme nicht gesenkt, zwei Verwaltungsbeamte des Krankenhauses am Ende des Flurs drehten sich um und sahen mißbilligend her.
    »Im Ernst«, sagte Lucian und tätschelte ihre Hand. »Wie heißt dieser Beamte? Vielleicht bin ich eines Tages auch einmal auf einen tüchtigen Bürokraten angewiesen.«
    Kate hatte Lucians Vater kennengelernt, einen bekannten Dichter, Intellektuellen und Regimekritiker; während seine Mutter ironischerweise der Nomenklatura angehörte - der Parteielite, die in den Devisenläden einkaufen konnte und stets besondere Privilegien genoß. Bukarest hatte fast zweieinhalb Millionen Einwohner, und manchmal dachte Kate, daß Lucian sie alle persönlich kannte. So sehr er mit der Nomenklatura verbunden und an ein privilegiertes Leben gewöhnt war, verabscheute Lucian doch sowohl das Regime Ceauşescu wie auch das Nachfolgeregime.
    »Der Mann hieß Stancu, glaube ich«, sagte Kate. »Ja, Stancu.«
    »Ah«, sagte Lucian, »wie der Romancier, der vor siebzehn Jahren gestorben ist. Kein Wunder, daß der Mann so tüchtig war. Mit einem Namen wie Stancu muß er in große Füße treten.«
    »Große Fußstapfen«, verbesserte Kate geistesabwesend. Sie mußte daran denken, wie tüchtig der Beamte wirklich gewesen war - er hatte Anrufe getätigt, Formulare ausgefüllt, ihr versichert, daß das rumänische Ausreisevisum des Kindes morgen um halb neun fertig sein würde. Als sie das heikle Thema von Joshuas Gesundheitszustand angeschnitten hatte - sie betrachtete das Kind inzwischen nur noch als Joshua, auch wenn sie nicht wußte, wie sie auf diesen Namen gekommen war -, tat Mr. Stancu alle Einzelheiten mit einer Handbewegung ab und sagte, daß es höchstens mit der amerikanischen Botschaft Probleme geben könnte.
    »Fußstapfen, ja«, sagte Lucian, der sie immer noch auf den Arm nahm. »Aber was für ein kleiner Beamtenwicht könnte in diese Fußstapfen treten? Zuerst müßten ihm einmal Schuhe und Socken des Romanciers Stancu passen. Und da wir gerade von Socken sprechen ...«
    Sie waren mit dem Fahrstuhl zum dritten Stock gefahren, hatten sich saubere Kittel und Masken aus dem Vorratsspind geholt, und jetzt deutete Lucian auf die übergroßen Socken, die das Krankenhauspersonal in den Isolierstationen über den Schuhen trug. »Nur Masken«, sagte Kate. Tests heute morgen hatten bei Joshua eine ziemlich niedrige Zahl weißer Blutkörperchen ergeben.
    »Hi ho, Silver«, sagte Lucian und zurrte die Maske fest.
    Kate schüttelte den Kopf. Lucian hatte ihr gesagt, daß er Amerika einmal mit seinem Vater besucht hatte. Aber das war nur wenige Tage gewesen. Wie konnte er vom ›Einsamen Ranger‹ wissen?
    Lucian schien ihre Gedanken zu lesen. Sie konnte sehen, wie sich die Wangen unter der Maske zu einem Grinsen verzogen.
    »Tonbänder der alten Rundfunksendungen«, sagte er. »Ich habe welche mitgenommen, als ich vor einigen Jahren in New York war.«
    »Als du noch ein Kind warst«, sagte Kate. Wenn sie Lucian unwiderstehlich fand, vergegenwärtigte sie sich immer, daß der Junge noch nicht auf der Welt gewesen war, als Präsident Kennedy ermordet wurde ... daß er erst drei war, als Robert Kennedy und Martin Luther King ermordet wurden. Angesichts dieser Tatsache fühlte sich Kate wahrhaftig alt, obwohl sie selbst beim Attentat auf den Präsidenten erst zehn und noch an der High-School gewesen war, als Bobby erschossen wurde.
    Lucian zuckte die Achseln. »Okay, Omi. Touché. Wollen wir jetzt Ihr Baby hier ansehen, oder was?«
    Kate ging in die Station voran und verspürte plötzlich die schreckliche Vorahnung, daß Joshua kalt und tot in seiner Wiege liegen würde.
    Das

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