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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Der größere Mann antwortete schroff, klopfte auf Kates Paß, raschelte mit den anderen Dokumenten und sagte: »Ziehen Sie dem Baby Decke und Kleidung aus.«
    Kate blinzelte, spürte Wut wie aufgeladene Ionen vor einem Sturm in der Luft schweben, sagte aber nichts. Sie wickelte Joshua aus der Decke und machte den Frotteestrampelanzug auf. Das Baby wachte auf und fing an zu weinen. »Pssst«, flüsterte Kate. Sie legte Decke und Strampelanzug mit der freien Hand auf den schmutzigen Tresen.
    Die Frau sagte etwas. »Windeln aus«, übersetzte der Wachmann.
    Kate sah von Gesicht zu Gesicht und versuchte ein Lächeln zu entdecken. Sie fand keins. Ihre Finger zitterten unmerklich, als sie die Sicherheitsnadeln aufmachte - nicht einmal die Botschaft hatte ihr Einwegwindeln besorgen können - und Joshua in die Höhe hob. Ohne die Kleidung sah das Baby noch zerbrechlicher aus - blasse Haut, vorstehende Rippen. Es hatte Blutergüsse an den dünnen Ärmchen, wo die IV- und Transfusionsnadeln gewesen waren. Der winzige Penis und der Hodensack waren in der Kälte geschrumpft, und vor Kates Augen breitete sich eine Gänsehaut über den ganzen Körper aus.
    Kate drückte ihn fest an sich und sah die Frau böse an. »In Ordnung? Haben Sie sich vergewissert, daß wir keine Staatsgeheimnisse oder Goldschätze schmuggeln?«
    Die Frau sah Kate mit verständnislosem Blick an, durchsuchte Decke und Strampelanzug, mied die Windel sorgfältig, sagte etwas zu dem pockennarbigen Mann und verließ die Kabine.
    »Es ist kalt«, sagte Kate. »Ich ziehe ihm jetzt die Kleidung wieder an.« Sie tat es hastig. Außerhalb der abgeteilten Kabine wurde über das schrille Lautsprechersystem von statischem Rauschen überlagert ihr Flug aufgerufen. Sie hörte, wie die anderen Passagiere die Treppe hinunter zum Bordbereich gingen.
    »Warten Sie«, sagte der pockennarbige Mann. Er legte Kates Paß und Papiere auf den Tresen und verließ mit dem anderen Mann die Kabine.
    Kate wiegte Joshua und sah durch den Vorhang hinaus. Die Abflughalle war menschenleer. Die Uhr über der Tür zeigte 7:04. Der Flug sollte planmäßig um 7 Uhr 10 starten. Von den drei Wachen, die bei ihr in der Kabine gewesen waren, war nichts zu sehen.
    Kate holte tief Luft und tätschelte das Baby. Das atmete schnell und verschleimt, als wäre wieder eine Erkältung im Anzug. »Pssst«, flüsterte Kate. »Alles in Ordnung, mein Kleiner.« Sie wußte, daß die Zugmaschine, die den Passagiertransporter zum Flugzeug ziehen würde, jeden Moment starten mußte. Wie um das zu bestätigen, ertönte eine unverständliche, aber drängende Stimme aus den Lautsprechern der Schalterhalle.
    Ohne sich noch einmal umzusehen, schnappte Kate ihre Papiere, hielt das Baby fest an sich, verließ die Kabine und ging starr geradeaus blickend, mit erhobenem Kopf, durch die endlose Halle. Zwei wartende Wachen am Ende der Treppe sahen ihr durch Zigarettenrauch blinzelnd entgegen.
    Kate zeigte Paß und Bordkarte hastig, aber ohne unziemliche Eile. Der junge Wachmann winkte sie weiter.
    Am unteren Ende der Treppe befanden sich ein weiterer Schalter und noch ein Wachmann. Kate konnte sehen, wie die letzten Passagiere draußen den Transportwagen bestiegen. Der Motor der Zugmaschine wurde in einer Wolke von Dieselabgasen angelassen. Kate konzentrierte sich auf die Tür ins Freie und ging an dem Wachmann vorbei.
    »Halt!«
    Sie blieb stehen, drehte sich langsam um und zwang sich zu lächeln. Joshua zappelte, weinte aber nicht.
    Der Wachmann hatte ein feistes Gesicht und kleine Äuglein. Er klopfte mit den Wurstfingern auf den Tresen. »Passport.«
    Kate legte ihn kommentarlos hin und versuchte, nicht zu zappeln, während der dicke Mann ihn gründlich studierte. Oben auf der Treppe, gerade außer Sichtweite, waren Schritte und Stimmen zu hören.
    Draußen waren die letzten Passagiere eingestiegen, das letzte Gepäck auf den zweiten Wagen verladen worden. »Wir kommen zu spät«, sagte Kate leise zu dem Wachmann.
    Er sah mit seinen Schweinsaugen auf und betrachtete sie und das Baby finster.
    Sie erwiderte seinen Blick schweigend fast eine volle Minute. Der Gepäckwagen fuhr los. Der Passagierwagen wartete darauf, die hundert Meter bis zum wartenden Flugzeug zurückzulegen.
    Als Kate noch als Chirurgin gearbeitet hatte, hatte sie Kollegen und Schwestern manchmal einzig und allein kraft ihres Blickes über dem Mundschutz zur Eile antreiben können. Das versuchte sie jetzt auch wieder und legte jedes Quentchen Autorität,

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