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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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geerbt, aber die hellblauen Augen und das überschäumende Temperament waren ein Geschenk ihrer schottisch-amerikanischen Mutter. Während der halbstündigen Fahrt vom Flughafen Stapleton in Denver nach Boulder gewann dieses Temperament zusehends die Oberhand.
    »Neuman, Sie haben keine Ahnung, wie wichtig die HIV-Forschungen sind, mit denen ich mich in Atlanta beschäftige«, fuhr sie Kate an, die dem Fahrer gesagt hatte, daß sie die Virologin abholen würde.
    »Doch, das weiß ich«, sagte Kate leise. »Ich verfolge alles von Ihnen, was durch das Netz kommt, und studiere die Berichte, noch ehe sie im Druck vorliegen.«
    Chandra verschränkte die Arme und ließ sich durch das Lob nicht beschwichtigen. »Dann sollten Sie wissen, daß es eine bodenlose Dummheit ist, mich wegen eines unausgegorenen Projekts hierher zu schleppen, wo jede Woche, die mein Team ohne mich auskommen muß, Tausenden das Leben kosten kann.«
    Kate nickte langsam. »Hören Sie«, sagte sie. »Geben Sie mir zwei Stunden Zeit. Nein ... sagen wir neunzig Minuten. Wenn ich Sie bis zum Mittag nicht überzeugt habe, lade ich Sie im Flagstaff House zum Essen ein, besorge Ihnen ein Ticket erster Klasse mit der Delta-Maschine zurück nach Atlanta und fahre sie höchstpersönlich zum Flughafen.«
    Chandras blaue Augen waren nicht feindselig, lediglich unnachgiebig. »Große Sprüche, Neuman. Aber ich nehme Sie beim Wort. Ich fürchte, nichts, bestenfalls die Wiederkunft Christi, könnte mich überzeugen, meinem Team fernzubleiben.«
    Wie sich herausstellte, dauerte es nicht einmal eine Stunde, die Daten in Kates Büro durchzugehen. »Jesus Christus«, flüsterte Chandra, als sie den letzten Ordner durchgesehen hatte. »Dieses Kind könnte das biologische Äquivalent des Steins von Rosette sein.«
    Kate bekam eine Gänsehaut auf den Armen. »Dann bleiben Sie? Zumindest bis wir eine Ahnung haben, wie wir diesen Retrovirus isolieren können?«
    »Ob ich bleibe?« sagte die andere Frau lachend. »Versuchen Sie mal, mich loszuwerden, Neuman. Wie schnell können wir hier in das Klasse IV-Labor gehen?«
    Kate sah auf die Uhr. »Wären zehn Minuten in Ordnung?«
    Chandra blieb einen Moment am Fenster stehen und betrachtete die Flatirons. »Warum sagen wir nicht neunzig Minuten? Ich glaube, ich lade Sie zum Essen ins Flagstaff House ein. Es könnte lange dauern, bis wir beide wieder Zeit für eine zivilisierte Mahlzeit haben.«
     
    Der Brief von Lucian kam vier Tage später. Kate las ihn, als sie abends um halb zehn von der Arbeit nach Hause kam und so müde war, daß sie kaum nach Joshua in dessen frisch gestrichenem Kinderzimmer sehen konnte. Dann duschte sie, sagte Julie gute Nacht und ging ins Arbeitszimmer, wo Tom seine Checkliste für eine Expedition ins Canyonland erstellte, und sah die Post durch. Als sie Lucians Brief sah, schlug ihr Herz auf eine seltsame und unerwartete Weise schneller. Er war mit International Federal Express geschickt worden.
     
    Liebste Kate und kleiner Joshua,
    der Sommer in Bukarest nimmt seinen Lauf, die Märkte sind längst nicht so gut besucht wie damals, als Ihr noch hier gewesen seid, eine schreckliche Hitzewelle ist hier, und ich bin auch hier. Es wird für mich kein Studienjahr in Amerika geben, jedenfalls nicht diesen Herbst. Mein Onkel und seine Familie können es sich nicht leisten, mir das Geld zu leihen, mein Vater besitzt großen Ruhm als Dichter, aber kein Geld (logisch! er ist Dichter!), und keine US-Universität wollte mir ein Stipendium geben, trotz Ihres ausführlichen (und zutreffenden) Empfehlungsschreibens, in dem Sie mich als die aufregendste Entdeckung seit Jonas Salk gepriesen haben.
    Aber genug von meinen Sorgen. Ich werde wieder einen Winter voller Spaß im wunderschönen Bukarest verbringen und die Anmeldung im Frühjahr wiederholen.
    Und wie geht es meiner Lieblingshämatologin und ihrem frischgebackenen Sohn? Ich hoffe, es geht Euch beiden gut. Ich würde mir Sorgen wegen Joshuas Zustand machen, wenn ich nicht grenzenloses Vertrauen in Ihre medizinischen Fähigkeiten hätte, Kate, ebenso wie in die, medizinisch gesprochen, fast wunderbaren Ressourcen in den Vereinigten Staaten von Amerika.
    Übrigens, habe ich Ihnen je den Witz erzählt, wie unser verstorbenes, vielbetrauertes Höchstes Staatsoberhaupt und dessen Frau in ein Distriktkrankenhaus gegangen sind, um sich von einem Arzt, der nicht der Partei angehörte, die Hämorrhoiden operieren zu lassen?
    Tatsächlich? Merkwürdig, ich kann mich gar

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