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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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nicht erinnern, daß ich den erzählt habe.
    Kate - letzte Woche ist hier etwas Seltsames und ein wenig Beunruhigendes passiert. Sie erinnern sich vielleicht noch, daß ich mir diesen Sommer etwas Geld als Assistent in Dr. Popescus Vorlesung ›Anatomie für Fortgeschrittene‹ verdient habe? Nun, es war langweilig, ermöglichte mir aber, einige Frustrationen abzubauen, indem ich ein Skalpell schwingen durfte. Wie dem auch sei, zu meinen nicht ganz so angenehmen Aufgaben gehört es, frühmorgens in die städtische Leichenhalle zu gehen, die unbekannten Leichen dort anzusehen und die besten Kadaver für die neuen Studenten auszusuchen. (Soweit haben mich fünf Jahre Ausbildung und das Vermögen meiner Familie gebracht.)
    Letzten Freitag sah ich mich auf der Suche nach den üblichen verstorbenen Drogenopfern, unbekannten Opfern von Verkehrsunfällen und Bauern, die an Unterernährung gestorben sind, in den Kühlräumen der Leichenhalle um, als ich auf einen bizarren Fall stieß. Der Leichnam war schon vor einigen Wochen gebracht worden, niemand hatte ihn abgeholt, und er sollte am Tag nach meinem Besuch eingeäschert werden. Als offizielle Todesursache wurden ›multiple Schnittwunden nach Unfall‹ angegeben, aber man mußte nur einen Blick auf ihn werfen und wußte, daß dieser Mann nicht infolge eines Unfalls gestorben war.
    Dem Leichnam war sämtliches Blut entzogen worden. Nicht fast alles Blut, sondern sämtliches Blut, Kate, und Sie wissen selbst, wie schwierig das bei einem Unfall wäre. Der Leichnam war der eines Mannes Mitte bis Ende Fünfzig. Fast ein Dutzend prämortale Schnitte waren ihm an Rumpf, Beinen, Handgelenken und am Hals zugefügt worden. Alle Schnitte waren sauber - fast als wären sie ihm mit einem Skalpell beigebracht worden -, und alle befanden sich in der Nähe von Hauptarterien. Eine untypische, sehr häßliche Wunde befand sich am linken Knöchel, spaltete Schienbein und Wadenbein und wiederholte sich am rechten Bein und dem Knöchel. Um die kleineren Wunden herum befanden sich seltsame sekundäre Blässemuster. Das heißt, nur so lange seltsam, bis mir schließlich die Todesursache bewußt wurde.
    Dieser Mann war auf den Kopf gestellt und an etwas aufgespießt worden, das Ähnlichkeit mit einem Fleischerhaken haben mußte, der durch die großen Beinknochen gedrungen war. Als er noch lebend dort hing, hatten mehrere Menschen diese fachmännischen Einschnitte an den Hauptarterien angebracht. Die Menge Blut, die er in kurzer Zeit verloren hat, muß unvorstellbar gewesen sein.
    Aber noch erstaunlicher - und beunruhigender - war die Ursache dieser Schnitte und der Blässemuster um sie herum. Es waren Zahnwunden. Keine Bisse, eher tiefe Einschnitte, wo mehr als ein halbes Dutzend Münder sich festgesaugt und Lippen und Zunge festgehalten hatten, während sie das Blut dieses Mannes in sich aufnahmen. Was hat man uns beigebracht, wieviel Blut befindet sich im menschlichen Körper, Kate? Rund sechs Liter, glaube ich.
    Aber damit ist diese entzückende rumänische Geschichte noch nicht zu Ende. Das Gesicht des Mannes war zerschlagen und verstümmelt, aber immer noch zu erkennen. Es war unser vermißter Minister für innere Angelegenheiten, der angeblich mit mehreren tausend Dollar amerikanischer Schmiergelder in den Westen geflohen sein sollte. Es war Ihr Mr. Stancu, Kate - der hilfreiche Beamte mit dem Namen des toten Dichters, der Mann, der Ihnen und Ihrem Sohn Joshua in so unerhört kurzer Zeit das Visum besorgt hat.
    Nun, Mr. Stancu wird keine Visa mehr ausstellen. Ich habe niemandem von dieser grausamen Geschichte erzählt. Mr. Stancu wurde am nächsten Tag im Armen-Krematorium eingeäschert.
    Warum beunruhige ich Sie mit dieser schrecklichen Sache, wo Sie doch sicher einen wunderschönen sonnigen Tag in Colorado genießen?
    Ich bin nicht sicher. Aber seien Sie vorsichtig, Kate. Geben Sie gut auf sich und Ihren winzigkleinen Freund acht. Dies ist ein Ort des Bösen, und manchmal geschehen hier Dinge, über die nicht einmal ich einen Witz machen kann.
    Alles Liebe aus Bukarest,
     
    Und darunter hatte Lucian ein großes rundes Grinsegesicht unter einer Regenwolke gemalt.
    Kate hielt den Brief mehrere Minuten lang, saß da und sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit, wo die Lichter der Veranda nicht hinreichten. Dann stand sie auf, ging an Tom vorbei, der sich über seine auf dem Arbeitszimmerboden ausgebreitete Ausrüstung beugte, ging den Flur entlang ins Schlafzimmer, machte die

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