Kinder der Nacht
Nachttischschublade auf und holte die geladene Browning heraus. Sie saß immer noch auf dem Bettrand und hielt die Pistole, als Tom eine halbe Stunde später hereinkam.
Kapitel 17
Der Sommer des Jahres 1991 war so naß und regnerisch wie seit Menschengedenken nicht mehr in Boulder, aber dennoch waren Ende August die Vorberge unter dem CDC braun, die Wiese hinter Kates Haus staubtrocken und gelblich, und der Rasen in der Stadt mußte täglich gesprengt werden. Als die Kinder der Umgegend in der Woche vor dem Labor Day wieder zur Schule mußten - ein Termin, den die in Massachusetts geborene und aufgewachsene Kate schrecklich verfrüht fand -, verzog sich indessen das stürmische Wetter und der Wetterbericht meldete die gewohnte Abfolge heißer, trockener, sommerähnlicher Tage.
Kate bemerkte es kaum. Die Welt außerhalb ihres Labors und der Labors des CDC kam ihr in zunehmendem Maße unwirklich vor. Sie stand vor Sonnenaufgang auf, fing um sieben Uhr an zu arbeiten, kam selten vor zehn oder elf Uhr abends nach Hause, und wenn sie sich überlegte, wieviel Sonnenschein und schönes Wetter sie zu sehen bekam, hätte es auch tiefster Winter sein können.
Sie erinnerte sich an einige wenige Ereignisse des Monats, die nichts mit ihren Forschungen zu tun hatten. Tom hatte die Beherrschung verloren, als sie ihm Lucians Brief gezeigt hatte, und gefragt, was der ›Dreckskerl von einem Leichenfledderer‹ damit bezweckte, ob er sie zu Tode ängstigen wollte?
Tom war im August zu einer Expedition ins Canyonland aufgebrochen, hatte sie aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit angerufen. Nach seiner Rückkehr verbrachte er ein paar Tage in ihrem Haus, aber dann hatte er seine Sachen in ein Apartment in Boulder geschafft, nicht mehr als zehn Minuten entfernt. Er kam nach wie vor fast jeden Abend vorbei - zuerst, um mit Kate zu reden, aber dann, als deren Tage im Labor immer länger wurden, um nach Julie und Joshua zu sehen, bevor er nach Hause fuhr.
Lieutenant Peterson oder der ältere Sergeant hatten sich einige Male sehen lassen, konnten aber keine weiteren Fortschritte vermelden. Nach einer Weile gab sie ihrer Sekretärin Anweisung, sie nicht mehr zu stören, wenn die Polizei vorbeikam, sofern es nichts Neues zu berichten gab. Es gab nie etwas.
Kate erinnerte sich an einen Telefonanruf, den sie Ende des Sommers in ihrem Haus bekommen hatte.
»Neuman? Sind Sie das?«
Es war fast Mitternacht, sie war gerade heimgekommen - hundemüde, aber wie üblich kribbelnd vor Aufregung -, hatte nach Josh gesehen, sich etwas Eistee eingeschenkt und bereitete ein Mikrowellengericht zu. Das Läuten des Telefons hatte sie erschreckt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung kam ihrem übermüdeten Gehirn vage vertraut vor, aber sie konnte sie nicht mit Sicherheit zuordnen.
»Neuman, tut mir leid, daß ich Sie so spät noch störe, aber Ihr Babysitter hat gesagt, daß Sie vor elf auf keinen Fall zu Hause sein würden.«
»O'Rourke!« sagte sie, als sie den sanften Akzent des Mittelwestens plötzlich erkannte. »Wie geht es Ihnen? Rufen Sie aus Bukarest an?«
»Nein, aus dieser anderen trostlosen Stadt der Zweiten Welt ... Chicago. Die Welt hat mich eine Zeitlang wieder.«
»Großartig.« Kate setzte sich auf einen Küchenstuhl und stellte den Eistee auf den Tresen. Es überraschte sie, wie froh sie war, die Stimme des Priesters zu hören. »Wann sind Sie aus Rumänien zurückgekommen?«
»Letzte Woche. Seither reise ich mit meiner Zirkusvorstellung durch die Gemeinden und versuche, Geld für die Hilfsfonds aufzubringen. Das ist nicht leicht, seit Rumänien nicht mehr so sehr in den Schlagzeilen ist. Es war ein hektischer Sommer ... nachrichtenmäßig gesehen.«
Kate wurde klar, wie irrsinnig das ganze Jahr gewesen war, soweit es die Nachrichten betraf. Zuerst der Golfkrieg und dann der landesweite Jubel über seine schnelle Beendigung - sie hatte durch ihren Aufenthalt in Rumänien fast nichts davon mitbekommen -, und jetzt die Unruhen in der Sowjetunion. Vor zwei Wochen hatte die Morgenzeitung berichtet, daß Gorbatschow aus Gesundheitsgründen seines Amtes enthoben worden war. Als sie am Abend CNN und die Schlagzeilen um halb zwölf einschaltete, wurde gemutmaßt, daß Gorbi gefangengesetzt und die Reformpläne gefährdet waren. Als sie sich wieder einmal eine Unterbrechung von der Arbeit im Labor gönnte und die Nachrichten einschaltete - am Mittwoch, dem neunzehnten August -, war Gorbatschow gewissermaßen wieder an der
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