Kinder der Nacht
oder einen Clan über zwanzig Generationen hinweg, seit etwa fünfzehnhundert nach Christi bis heute, wobei die Verbreitung der J-Virus-Mutation innerhalb dieser Familie verdeutlicht wird. Angesichts der doppelt rezessiven Natur der Anomalie und der hohen Sterblichkeitsrate, von der man bei der Immunstörung ausgehen müßte, die die Anomalie begleitet, sehen Sie sicher ein, daß die Verbreitung nicht besonders groß sein kann, selbst wenn es sich um einen in unseren Augen gutartigen Virus handelt ...«
Alle bemühten sich, die langen Stränge des hypothetischen Familienzuwachses zu entschlüsseln, bei denen die Stränge der J-Virus-Mutation hilfreicherweise rot markiert waren. Nach dreißig Sekunden pfiff Bob Underhill durch die Zähne. »Ich habe gedacht, die Mutation müßte neu sein, weil wir sie sonst schon einmal gesehen hätten, aber das hier zeigt, daß sie schon seit Jahrhunderten existieren könnte, ohne weite Verbreitung zu erfahren.«
Chandra nickte und ging weiter zum nächsten Dia. »Gehen wir von einer Verbreitung der Mutation durch Heirat und genetische Streuung aus, hätten wir es immer noch mit einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Überlebenden des ursprünglichen Paars zu tun - dreihundert bis zweitausend Menschen weltweit.« Chandra sah Kate an. »Diese Menschen wären auf einen vergleichsweise konstanten Zustrom von Transfusionen angewiesen, um erwachsen zu werden, immer vorausgesetzt, die Krankheit reicht über die Kindheit hinaus, und wir haben keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.«
Eine der großen Bosse des CDC, eine Ärztin und Verwaltungsbeamtin namens Deborah Rawlings, sagte: »Aber im fünfzehnten Jahrhundert gab es keine Transfusionen ... überhaupt nicht, bis zum vorigen Jahrhundert ...« Sie verstummte.
Kate stand im Licht des Projektors. »Genau. Damit diese Anomalie tatsächlich weiter vererbt werden konnte, müßten die Überlebenden tatsächlich Blut verdaut haben. Sie müßten ihren Kindern buchstäblich Blut gefüttert haben, wenn die Kinder den doppelt rezessiven J-Virus in sich hatten. Erst im letzten Jahrhundert hätten Transfusionen die vom J-Virus Befallenen retten können.« Sie wartete eine Minute, bis sämtliche Spezialisten und Verwaltungsleute diese Information verarbeitet hatten.
»Vampire«, sagte Ken Mauberly. »Der Mythos hat seine Wurzeln in der Realität.«
Kate nickte. »Keine Wesen der Nacht mit Fangzähnen«, sagte sie, »sondern Mitglieder einer Familie, die Menschenblut verdauen mußte, um mit dem vererbten defekten Immunsystem überleben zu können. Dabei bestünde logischerweise eine Neigung zu Heimlichtuerei, Solidarität, Inzucht ... als Folge dürfte die doppelt rezessive Anomalie etwas häufiger als sonst aufgetreten sein, so wie die Hämophilie, die die europäischen Königshäuser plagte.«
Ein Assistenzvirologe namens Charlie Tate hob zögernd die Hand, als wäre er ein Student der High-School.
Kate verstummte. »Charlie?«
Der junge Mann rückte die runde Brille zurecht. »Wie um alles in der Welt ... ich meine, wie hat der erste Träger des J-Virus herausbekommen, daß Blut ihn retten konnte ... oder sie ... Ich meine, wie ist jemand auf die Idee gekommen, Blut zu trinken?«
»Im Mittelalter«, sagte Kate, »berichten Aufzeichnungen von Damen des Adels, die in Blut gebadet haben, weil es der Legende zufolge die Haut schöner machen würde. Die Massai trinken heute noch Löwenblut, um den Mut des Tieres in sich aufzunehmen. Blut ist - bis in jüngste Zeit - Gegenstand von Aberglaube und Ehrfurcht gewesen.« Sie verstummte einen Moment und sah Chandra an. »Und jetzt, mit AIDS, bekommt es diesen Hauch von Geheimnis und Grauen wieder.« Kate seufzte und rieb sich die Wangen. »Wir wissen nicht, wie es angefangen hat, Charlie«, sagte sie leise. »Aber nachdem es funktionierte, hatten die Träger des J-Virus keine andere Wahl mehr ... als Menschenblut zu trinken oder zu sterben.«
Das Schweigen dehnte sich noch einmal dreißig Sekunden, bis Kate fortfuhr. »Ein Bestandteil meiner Arbeit war, diesen Zyklus zu beenden, und es sieht aus, als hätte ich eine Lösung gefunden.« Sie ging ein Dia weiter, worauf das Bild eines Schweinskopfs auf der Leinwand erschien.
Die Ärzte im Zimmer kicherten unwillkürlich.
Kate lächelte. »Die meisten von Ihnen wissen von dem DNX-Durchbruch bei menschlichem Ersatzblut vergangenen Juni ...«
Ken Mauberly hielt den Füller hoch. »Bitte frischen Sie unser überarbeitetes Verwaltungsgedächtnis auf,
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