Kinder der Stürme
Weltblick und ein scharfes Auge für Details. Oftmals brachte er Maris zum Lachen. Oder er stimmte sie nachdenklich. Zeitweise gelang es ihm, sie vergessen zu lassen, daß sie mit gebrochenen Gliedern im Bett liegen mußte.
Zuerst erzählte er ihr Geschichten über die Gesellschaft von Thayos. Seine Beschreibungen waren so lebendig, daß sie die Personen förmlich vor sich sah. Aber nach und nach sprach er mehr über sich und gewährte ihr Einblick in sein Leben. Er schien ihr einen Ausgleich für die vertraulichen Worte, die sie während ihrer Bewußtlosigkeit geäußert hatte, bieten zu wollen.
Vor sechzig Jahren war er in den tiefen Wäldern von Thayos, einer Insel am Nordrand der Ostinseln geboren worden. Seine Eltern waren Waldleute.
Im Wald hatten auch andere Familien und andere Kinder, mit denen er hätte spielen können, gelebt. Aber seit frühester Jugend hatte Evan es vorgezogen, seine Zeit allein zu verbringen. Er liebte es, sich im Unterholz zu verstecken und die schüchternen, braungebrannten Feldarbeiter zu beobachten. Oder die Plätze auszukundschaften, wo die am schönsten duftenden Blumen und die bestschmeckenden Wurzeln wuchsen. Gern saß er auf einer ruhigen Lichtung und verzehrte ein Stück Brot, mit dessen Krumen er die Vögel anlockte, sich auf seine Hand zu setzen.
Als er sechzehn war, hatte er sich in eine reisende Hebamme verliebt. Jani, die Hebamme, war eine kleine dunkelhaarige Frau mit Sinn für Humor und einer spitzen Zunge.
Um ihr nahe sein zu können, versuchte sich Evan als ihr Assistent. Zunächst amüsierte sie sein Interesse, sie begann jedoch bald, seine Hilfe zu akzeptieren. Evan, dessen Interesse durch seine Liebe angefeuert wurde, lernte sehr viel von ihr.
Am Vorabend ihrer Abreise gestand er ihr seine Liebe. Sie wollte jedoch weder bleiben, noch wollte sie ihn mitnehmen -weder als Liebhaber, noch als Freund und nicht einmal als Assistent, obwohl sie zugeben mußte, daß er viel gelernt und sich äußerst geschickt angestellt hatte. Sie reiste immer allein. Das war alles.
Nachdem Jani abgereist war, wandte Evan weiter seine Talente als Heiler an. Da der nächste Heiler in dem Dorf Thossi lebte, das eine Tagesreise entfernt lag, war Evan bald ein gefragter Mann. Schließlich wurde er der Schüler der Heilerin von Thossi. Er hätte auch die Möglichkeit gehabt, eine Schule für Heiler zu besuchen, aber das hätte bedeutet, daß er eine Seereise hätte antreten müssen, und nichts beängstigte ihn mehr als der Gedanke, auf dem Wasser zu reisen.
Nachdem er alles gelernt hatte, was sie konnte, kehrte Evan in den Wald zurück, um dort zu leben und zu arbeiten. Obwohl er niemals heiratete, lebte er dennoch nicht immer allein. Frauen suchten ihn auf – Frauen, die einen Liebhaber suchten, der nicht besitzergreifend war, Frauen, die auf Reisen waren und ein paar Tage oder Monate bei ihm verbrachten und Patienten, die eine Krankheit bei ihm auskurierten.
Maris hörte seiner sanften freundlichen Stimme zu und betrachtete sein Gesicht viele Stunden lang, bis sie es schließlich so genau kannte wie das ihrer ehemaligen Liebhaber. Sie fühlte sich von ihm, den großen blauen Augen, den geschickten sanften Händen, den hohen Wangenknochen und der imposanten Hakennase angezogen. Sie dachte darüber nach, wie er sich wohl fühlte – war er wirklich so in sich gekehrt, wie er wirken wollte?
Eines Tages unterbrach Maris seine Geschichte über eine Familie mit drei Kindern, die er kürzlich getroffen hatte, und fragte: „Hast du dich jemals wieder verhebt? Nach Jani, meine ich.“
Er blickte überrascht drein. „Ja, natürlich. Ich habe dir davon erzählt …“
„Aber nicht so sehr, daß du heiraten wolltest.“
„Manchmal schon. Mit S’Rai, sie lebte über ein Jahr bei mir, war ich sehr glücklich. Ich habe sie sehr geliebt, und ich wollte, daß sie blieb. Aber sie hatte bereits woanders ihre Wurzeln geschlagen. Sie wollte nicht hier im Wald leben. Sie hat mich verlassen.“
„Warum bist du nicht mit ihr gegangen? Hat sie dich nicht darum gebeten?“
Evan sah unglücklich aus. „Ja, das hat sie. Sie wollte, daß ich mit ihr gehe. Aber irgendwie schien mir das unmöglich.“
„Bist du jemals woanders gewesen?“
„Wann immer es nötig war, habe ich ganz Thayos bereist“, sagte Evan, so als müßte er sich verteidigen. „Und ich habe in meiner Jugend fast zwei Jahre in der Nähe von Thossi gelebt.“
„Thayos ist überall gleich“, sagte Maris und zuckte die heile
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