Kinder des Donners
Mutter während der Schwangerschaft verlassen und nicht das geringste Interesse an seinem Kind gezeigt hatte, bis sie zwangsweise vereint wurden, daß Ellen ih- ren leiblichen Vater ablehnen würde. Doch jetzt schie- nen sie bestens miteinander auszukommen. Es hatte fast den Anschein, als hätte sie ihn dazu verführt, sie anzunehmen. Bestimmt hatte sie ihn bezaubert...
Würde eine solche Beziehung auf lange Sicht nicht vielleicht... ungesund werden?
Alle derartigen Gedanken verflüchtigten sich jedoch,
als Ellen, die ihrem Vater eine Erholungspause gönnen wollte, herüberrutschte und sich statt dessen auf Clau-
dias Schoß setzte. Nein, sie war nichts anderes als ein
normales, wenn auch ungewöhnliches intelligentes Mädchen, das das beste aus einer schlechten Situation machte und dabei eine reife Leistung vollbrachte.
Du, schalt Claudia sich selbst, hast dich zu sehr von zu vielen Skandalgeschichten beeindrucken lassen. Nicht jeder
alleinerziehende männliche Elternteil hegt abgründige Be- gierden hinsichtlich seines mannbaren Sprößlings ...
Mit einem verstohlenen, seichten Lächeln über ihren Verdacht drehte sie sich um und blickte aus dem Fen- ster. Die Scheibe war streifig vom Regen, der von Minu- te zu Minute heftiger wurde.
Ihr Blick fiel auf eine fast ununterbrochene Reihe von >Zu-verkaufen<-Schildern, hauptsächlich an verlassenen Fabriken. Der wirtschaftliche Zusammenbruch, der in
den Vereinigten Staaten begonnen hatte, forderte nun auch hier seinen Tribut — er und die Konkurrenz der anderen, leistungsfähigeren EG-Länder. Sie erkannte den Namen einer Firma; kürzlich war in den Nachrich- ten gemeldet worden, daß sie mit Sack und Pack nach Spanien übersiedelte. Eine Gruppe von ausgemergelt aussehenden ehemaligen Beschäftigten, vom strömen- den Regen völlig durchnäßt, hielten Spruchbänder hoch, damit sie die Zugpassagiere lesen sollten, doch die Fensterscheiben waren zu verschmiert, als,daß man die Schrift darauf hätte entziffern können.
Jedesmal, wenn der Zug anhielt, kamen Rudel von
hoffnungsvollen Bettlern auf die aussteigenden Passa-
giere zugestürzt und winselten um Almosen. Bewaffne- te Polizisten zerrten sie weg, versetzten ihnen Schläge gegen den Kopf, stießen sie an die Wand und salutierten vor den verschonten Opfern der Belästigung. In Cam- berley jedoch war nicht mehr die Polizei auf Patrouille, sondern die Armee.
»Meinst du, das hängt mit Thrower zusammen?« raunte Claudia Peter zu, während sie sich zum Ausstei- gen bereit machten. Mit angespanntem Gesicht nickte er.
»Ist was faul?«
»Ja.« Er biß sich auf die Unterlippe und warf von der Seite her einen Blick auf Ellen.
»Wir werden uns frech darüber hinwegsetzen. Komm!«
Sie griff nach seiner Hand — und erstarrte im selben Moment. Sein entgegenkommender Druck erinnerte sie
daran, wie geschickt diese Hand letzte Nacht gewesen war, und auch daran, daß sie ohne Schutz mit ihm ge- schlafen hatte.
Bin ich denn wahnsinnig?
Jetzt war er an der Reihe zu fragen, ob etwas nicht stimmte. Doch bevor sie antworten konnte — bevor sie überhaupt Zeit hatte, sich mit dem Verstand klarzuma- chen, wodurch sie aufgeschreckt worden war —, dräng-
te Ellen sie zum Weitergehen, auf die khakifarben ge- kleideten Männer und Frauen zu, die den Ausgang des Bahnsteigs bewachten und von denen bereits einige die Lippen kräuselten, als sie einer Person mit dunkler Hautfarbe ansichtig wurden. Mit einer bösen Vorah- nung bemerkte sie, daß sie alle rot-weiß-blaue Bänder trugen.
Dann geschah das Wunder. Eine klare Stimme rief: »Peter! Peter Levin!«
Peter hielt inne und drehte sich blitzartig um. Ein hochgewachsener, auffallend gut gekleideter Mann kam auf ihn zu; er war gerade aus einem der Erste-Klasse-
Abteile ausgestiegen.
»Peter, erinnerst du dich nicht an mich?« fragte er.
»Mein Gott, natürlich!« Peter nahm die Hand des an- deren und schüttelte sie herzlich. »Harry Shay! Seit ei- ner Ewigkeit versuche ich, mit dir Verbindung aufzu- nehmen. Was hat dich veranlaßt, Kalifornien zu verlas-
sen? — Oh, übrigens, dies ist eine gute Freundin von mir, Dr. Morris, Claudia Morris, und dies ist meine Toch- ter Ellen. Harry Shay, ehemals von Shaytronix Inc.! Was machst du wieder hier in Großbritannien?«
Seine Jahresfahrkarte schwingend, führte sie Harry zum Ausgang und fegte dabei die Militärs mit solcher
Autorität beiseite, daß sie einfach ihre Aufmerksamkeit
in eine andere Richtung wandten. Es dauerte
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