Kinder des Donners
aufhalte, löschte er das Band, ohne sich die Mühe zu machen, zurückzu- rufen.
Ich weiß nicht, wer ich bin.
Oh, ich weiß natürlich, wie ich heiße — Sheila Hub- bard. Jedenfalls werde ich allgemein unter dem Namen
Hubbard geführt, obwohl das in Wirklichkeit der Name des zweiten Mannes meiner Mutter ist. Der erste war ein Künstler namens Doug Mackay. Er und Ingrid (mei- ne Mutter) trennten sich, als ich noch ziemlich klein war. Ich bin nie ganz dahintergekommen, was der Grund dafür war, aber ich habe den Eindruck, es hatte etwas damit zu tun, daß sie sich ein Kind wünschte, und er keine Lust hatte, sich mit überflüssigem Ballast zu belasten, obwohl ich zu ihm eine innere Bindung hatte, die wohl schon so etwas wie eine fixe Idee war,
denn als sie wieder heiratete, und zwar Joe (einen geris- senen Geschäftemacher, Großkotz und Geldsack), ent- wickelte ich alle Arten von Macken. Einmal habe ich heimlich einen Blick in den Bericht eines Psychiaters über mich geworfen. Es wimmelte darin von Begriffen wie >Verhaltensstörungen< und Irrelevanz der Affekten
Und daran lag es, daß ich schließlich in dieser pro- gressiven Schule, die Mappleby House heißt und am
Allerwertesten der Welt liegt, landete.
Doch mir gefällt es hier erheblich besser als in meiner früheren Schule, das muß ich zugeben. Im großen und ganzen macht hier jeder, was er will, solang er damit keinem anderen schadet. Es gibt ein paar wirklich tolle Lehrer, die anscheinend Kinder echt mögen. Bevor ich hierherkam, hatte ich keine Ahnung, wieviel Spaß es machen kann, etwas begreifen zu lernen. Manchmal kriege ich eine schreckliche Wut auf meine früheren Lehrer, denen alles egal war, Hauptsache, man hatte die erwünschte Antwort parat.
Aber ich schweife ab.
Ich wollte eigentlich sagen: Ich weiß, wie alt ich bin — beim nächsten Geburtstag werde ich vierzehn —, und ich erkenne mein Gesicht, wenn ich es im Spiegel sehe: das kräftige schwarze Haar, die braunen Augen und die
etwas olivfarbene Haut, als ob da irgendwelche Vorfah- ren aus dem Nahen Osten mitgemischt hätten ... Oft betrachte ich mich stundenlang und versuche mich so
zu sehen, wie mich vielleicht jemand einschätzt, dem ich zum erstenmal begegne. Ich kann es nicht so ganz nachvollziehen, genausowenig wie ich sagen könnte, ob ich hübsch bin. Ich hoffe, daß ich es bin — ich meine,
von Natur aus. Ich kann es nicht ausstehen, mein Ge- sicht zu tünchen, wie es einige der älteren Mädchen ma- chen, nur um auf irgendeinen dämlichen Knaben einen günstigeren Eindruck zu machen.
Nein, der Grund, warum ich nicht mehr weiß, wer ich bin, ist der, daß ich mich verändert habe. Innerlich. Ich
weiß genau, wann das passiert ist, aber ich weiß nicht, warum. Und ich habe Angst. Soweit ist es mit mir ge-
kommen.
Mappleby war früher mal ein großes Landhaus, nicht gerade ein hochherrschaftliches Gut — es stammt aus der viktorianischen Zeit —, doch es ist von einem weit- läufigen Garten umgeben mit vielen lauschigen Win- keln zwischen Lorbeerbüschen, und der Platz, den die meisten von uns besonders mögen — vor allem im Sommer —, ist der, wo einer der Wege an einer Fluß- biegung endet. Der Fluß ist an dieser Stelle ziemlich flach, so daß man baden kann, wenn einem danach ist,
aber das andere Ufer gehört nicht mehr zu unserem Grundstück, und manchmal kommen die einheimischen Bauerntölpel und gaffen uns an und versuchen sogar, uns anzumachen — wobei sie mit äußerstem Stimmauf- wand die Entfernung überbrüllen müssen. Sie können nicht zu uns herüberkommen, denn es gibt so ein komi- sches Gebilde aus Maschendraht, das wir >die Palisade< nennen, und außerdem ist das Wasser ein bißchen schlammig, und wir haben auch einen richtigen Swim- mingpool. Aber der Platz eignet sich hervorragend zum Sonnenbaden, und da Mappleby in den zwanziger Jah-
ren gegründet worden ist, als die sogenannte >Freikör- perkultur< (ich glaube, so heißt das) hoch im Kurs stand,
braucht man nicht einmal einen Faden am Leib zu tra- gen, wenn man nicht will.
Selbstverständlich werden wir alle ermutigt, schreck- lich natürlich und gesund mit unserem Körper umzuge- hen, und Jungen und Mädchen schlafen im selben Raum und duschen zusammen und alles so Sachen, aber mir gefällt das, und wenn das Essen nicht ziemlich mäßig wäre, könnte man glatt sagen, daß das Ganze hier super ist, abgesehen natürlich von dem Umstand, daß wir bei den Einheimischen unheimlich Anstoß erre-
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