Kinder des Donners
normaler Schultag. Wie immer
stand Tracy rechtzeitig auf; trotz eines warnenden Un- terleibskrampfes — gegen den sie eine starke Schmerz- tablette nahm, nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte — zog sie ihre Uniform an, verschönerte sich mit einem Hauch von Rouge und einer zarten Linie mit dem Au- genbrauenstift sowie einer Spur von Lippenstift... und öffnete ihr Schatzkästlein, wie sie die Schublade ihres Nachttisches nannte, um sich zu entscheiden, welche zusätzlichen Akzente sie noch setzen wollte.
Früher oder später — und wahrscheinlich früher — würde sie etwas Größeres als diese Schublade brau-
chen, um ihre Errungenschaften zu verstauen. Da gab es Ringe, Uhren, Broschen, Anhänger, Halsketten,
Armbänder, Haarspangen — eine wundervolle Ala-
din-Höhle voller Schmuck; jedes einzelne Stück war sorgsam geschützt in zusammengeknüllten Papiertü- chern oder Watte.
Sie entschied sich für einen silbernen Haarclip, mit dem sie sich die dunklen Zöpfe im Stil der vierziger Jah-
re hochsteckte; eine Reminiszenz an die Bilder von Ve- ronica Lake; dazu legte sie eine Quarzuhr mit silbernem
Band an und eine silberne Brosche mit eingelassenen Brillanten. Nichts davon war so glitzernd, daß es die
Lehrer gestört hätte — nicht, daß diese heute noch ge- wagt hätten sie zu rügen —, doch immerhin so, daß ih- re Freunde, die sie für eine >durchgestylte< Person hiel- ten, in dieser Meinung bestärkt wurden. Nur wenige der anderen Schülerinnen wagten es, Schmuck zur Uni- form zu tragen, da das nicht gern gesehen wurde.
Und nach dem Frühstück, da es ein schöner Morgen war, machte sie sich, wie in solchen Fällen üblich, zu Fuß auf den Weg, um die drei Blocks weit bis zur Schule zu gehen.
Als sie näherkam, merkte sie jedoch, daß dort etwas höchst Merkwürdiges vor sich ging. Während des War- tens auf die Schulglocke, die sie alle zusammenrufen würde, flitzten die kleineren Kinder wie immer auf dem Schulhof herum, rempelten sich gegenseitig an und schrien sich etwas zu. Doch eine Gruppe älterer Mäd- chen, ihre Klassenkameradinnen, stand auf dem gepfla- sterten Bürgersteig vor dem Tor und umringten jeman- den, den sie zunächst nicht erkennen konnte.
Eine Woge von Wut wallte in ihrem Hinterkopf auf. Es war ein Privileg, das sie immer als ihr selbst vorbe- halten erachtet hatte: der Honigtopf zu sein, den die Bienen umschwirrten — so drückte sie das im stillen aus ... obwohl sie das selbst ihrer besten Freundin ge-
genüber niemals zugeben würde.
Wenn sie eine gehabt hätte. Manchmal kam ihr zu Bewußtsein, daß sie keine hatte. Obwohl sie anerkannt war, ja sogar begehrt, obwohl die Mädchen und häufig auch die Jungen sie um Rat fragten und sie großzügig mit kostbaren Gütern entlohnten, schien sie keine ech- ten Freunde zu haben — Menschen, bei denen sie sich vollkommen behaglich fühlen konnte, denen sie gehei- me Ängste und Wünsche anvertrauen konnte.
Doch solche Gedanken gehörten in die Zeit vor dem
Zubettgehen, vor dem Einschlafen, und nicht in die Morgenstunden. Sie wurde sowieso schnell von ihnen
abgelenkt, als sie beim Näherkommen plötzlich erkann-
te, wer da im Brennpunkt der Aufmerksamkeit der an- deren Mädchen stand.
Natürlich!
Es war Shirley Waxman, die im Alter von sechzehn
Jahren am Ende des Schuljahrs abgegangen war, um — und das war eine mittelmäßige Sensation gewesen, denn der Rückfall in eine puritanische Keuschheit auf- grund von AIDS war alles andere als überstanden, ob- wohl es inzwischen einen wirkungsvollen Impfstoff gab — mit ihrem Freund zusammenzuziehen. Jetzt sah es
ganz so aus, als ob ...
Oh, kein Zweifel! Sie hielt die linke Hand ausge- streckt, drehte sie in alle Richtungen, und die anderen Mädchen stießen Oh!s und Ah!s aus. Sie mußte, konnte nur mit ihrem Verlobungsring angeben.
Unwillkürlich hatte Tracy ihre Schritte beschleunigt. Sie besann sich, ihren Gang etwas zu verlangsamen, und schlenderte leise zu den anderen, die sie erst be-
merkten, als sie nur noch auf Armeslänge von ihnen
entfernt war.
Das war nicht so, wie es sein sollte. Sie hatte schon vor langer Zeit — na ja, immerhin vor achtzehn Mona-
ten — beschlossen, daß sie stets der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit sein müßte. Und irgendwie hatte sie bisher immer Mittel und Wege gefunden, das zu errei- chen.
Das starke Schmerzmittel hatte ihre Unterleibs- krämpfe behoben, aber es hatte einen Nebeneffekt: Sie konnte nicht ganz klar denken.
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