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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Augenblick verging, und kein menschlicher Laut war zu hören. Mathilda atmete tief ein, löste den festen Griff um den Baumstamm und blickte Arvid wieder an.
    Ich habe jedes Wort verstanden, wollte sie sagen, ich beherrsche tatsächlich ihre Sprache. Doch als er ihr seine Hand reichte und die ihre drückte, brach lediglich aus ihr hervor: »Gott sei Dank … o Gott sei Dank, dass wir ihnen entgangen sind.«
    Sie blieben auf dem Baum hocken, bis das Morgengrauen Schneisen in den nachtschwarzen Himmel schlug und ihre Hände so steif und kalt waren wie die Äste. Kurz überkam Mathilda das Gefühl, dass sie damit verschmolzen war, sich nie wieder aus diesem Wald befreien könnte, dass ihre Haut nicht glatt war, sondern rau wie Rinde, und dass ihr anstelle von Füßen Wurzeln wuchsen. Doch als sie an sich herabblickte, war sie immer noch dieselbe – eine zitternde, zarte junge Frau.
    »Komm!«, murmelte Arvid. »Wir … wir sollten weiter.«
    »Aber hier oben sind wir in Sicherheit!«
    »Hier oben werden wir verhungern und erfrieren.«
    Alles in Mathilda sträubte sich, herunterzuklettern, aber als Arvid sich an den Abstieg machte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Die Furcht vor der Einsamkeit war größer als die vor ihren Verfolgern. Was ihr in der Panik der Nacht so leichtgefallen war, bereitete ihr jetzt größte Mühe. Flugs war sie den Baum hinaufgeklettert, nur zögernd tastete sie sich jetzt von Ast zu Ast, gewiss, beim nächsten Schritt in die Tiefe zu stürzen und sich das Genick zu brechen.
    Vielleicht, ging ihr durch den Kopf, vielleicht wäre das sogar besser. Dann bliebe es ihr erspart, von einem Fremden mit einem Messer erstochen zu werden.
    Irgendwann hatte sie es geschafft und landete auf dem weichen Waldboden. Ihre Hände und Füße brannten, aber in ihrem Herzen war es plötzlich kalt, und die Vorstellung, allein zurückzubleiben, doch nicht mehr die unerträglichste. Sie wusste nicht, warum ihr all das widerfuhr, jedoch, dass es nicht auch mit Arvid geschehen musste.
    »Wenn sie es tatsächlich auf mich abgesehen haben, dann bist du in Sicherheit, sobald sich unsere Wege trennen.« Sie suchte seinen Blick, auch sein Gesicht war verschmutzt und geschunden. »Wenn du mich einfach hier zurücklässt – dann kannst du leben.«
    Sie sagte es ganz ruhig, nicht sicher, ob sie es ihm um seinetwillen anbot oder weil sie zu erschöpft war, um noch länger zu fliehen. Und sie war sich auch nicht sicher, warum er es ablehnte – weil er sich für sie verantwortlich fühlte oder weil er Angst vor der Einsamkeit des Waldes hatte. In jedem Fall schüttelte er energisch den Kopf.
    »Ich lasse dich nicht allein.«
    Und wieder war sie sich einer Sache nicht sicher – diesmal, warum diese Worte sie so glücklich machten, das schmerzhafte Brennen in ihren Handflächen sogar kurz nachließ und sich in ihrer Brust eine angenehme Wärme ausbreitete. Aber es genügte, dass es so war.
    Sie gingen langsamer als in der Nacht. Ihre Kräfte waren dennoch bald erschöpft. Nach den vielen Stunden auf dem Baum mussten sie sich ausruhen, ungeachtet der Gefahr, entdeckt zu werden.
    »Erst schläfst du, und ich wache, dann wechseln wir uns ab«, entschied Arvid.
    So froh sie auch war, endlich ruhig zu stehen – als sie auf den erdigen Boden blickte, scheute sie sich, sich dorthin zu legen. Zu bedrohlich war die Erinnerung an den nächtlichen Angreifer, der sie so wehrlos vorgefunden hatte. Sie hockte sich lediglich auf die Fersen und lehnte sich an einen Baumstamm.
    »So kannst du nicht schlafen«, sagte Arvid. Er packte sie an den Schultern und drückte sie aufs Moos. Immer noch fühlte sie sich unwohl, aber sie wehrte sich nicht, und seine Berührung nahm ihr die Angst vor der Finsternis. Sie schloss die Augen und fühlte, wie ihre Glieder sich entspannten. Sie spürte Arvids Atem, hörte seinen Herzschlag, hörte auch den eigenen, der sich plötzlich beschleunigte, als würde sie nicht liegen, sondern rennen. Und ja, sie rannte wieder, diesmal keinen Verfolgern davon, sondern durch eine Höhle, heimelig niedrig zuerst, dann immer höher. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Sie lief nicht davon – sie lief auf etwas zu: auf einen schmalen Lichtstreifen am Ende der Höhle, ein Licht, zunächst so kalt wie das einer Mondsichel, dann wärmer und greller. Sie hörte das Meer rauschen.
    Wie kann es sein, dass ich laufe, obwohl ich ruhe? Warum rauscht das Meer im Wald? Warum wachsen am Rand der Klippen am

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