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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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frei.«
    Unwillkürlich hörte sie die geschliffene Stimme ihres Lehrers, der sie als Kind unterrichtet hatte. Ihr Vater hatte zwar gedacht, dass man bei einem Mädchen nicht unbedingt fördern müsse, was Frauen nach Gottes Willen nicht besaßen – nämlich Klugheit und einen wachen Verstand –, aber er wollte, dass sie lernte, der Geschichte des Landes Respekt entgegenzubringen. Und so hatte ihr der Lehrer von den vielen großen Königen erzählt, die die Bretagne geprägt hatten und deren Namen sie ständig wiederholen musste: Nominoë, Erispoë, Salomon …
    Entgegen der Ansicht ihres Vaters war sie klug und hörte aus den Worten des Lehrers heraus, dass die großen Könige nicht immer groß gewesen waren und dass selbst einer, dessen Namen man noch Jahrhunderte nach seinem Tod flüsternd ausspricht, trotzdem einer gewesen sein konnte, der in seinem Leben gescheitert war.
    Unter Nominoë war die Bretagne noch lächerlich klein gewesen, unter Erispoe war sie etwas gewachsen, unter Salomon waren das Cotentin und Bessin hinzugekommen. Es hatte nichts genützt. Die Männer aus dem Norden, die in das Land einfielen, waren mächtiger als die großen Könige.
    »Ist es nicht schändlich, dass Salomon nicht gegen die Nordmänner gekämpft hat?«, hatte die kleine Hawisa damals ihren Lehrer gefragt. »Warum hat er nicht die Waffen erhoben, sondern ihm stattdessen einen Preis von fünfhundert Kühen geboten, damit sie das Land verlassen?«
    »Nun, oft war es ratsam, ein solches Bündnis zu schließen«, hatte der Lehrer geantwortet. »Salomon hat eben die Zeichen der Zeit erkannt.«
    Nach Salomon kam ein neuer König, und der hatte sich doch noch als wahrhaft groß erwiesen. Er gab den Nordmännern keine Kühe, sondern erhob das Schwert, besiegte ihren Führer Hasteinn in der großen Schlacht und verbreitete so viel Furcht und Schrecken, dass nicht nur Hasteinns, sondern auch alle anderen Stämme flohen. Die, die es wagten, wiederzukehren, ertranken im eigenen Blut. Es herrschte Frieden in der Bretagne. Zumindest bis zum Jahre 907.
    Dann starb jener König Alanus, denn auch große Männer sind vor dem Tod nicht gefeit, und die Menschen, die nach ihm weiterleben mussten, Menschen wie Hawisa, konnten aus der Geschichte ihres Landes nur zwei Schlüsse ziehen: Entweder man besiegte den Feind aus dem Norden – oder man unterwarf sich ihm ganz und gar.
    Hawisa schüttelte die Erinnerungen ab und wandte sich wieder an Daniel. »Ich habe nie vergessen, wer ich bin und woher ich komme. Aber um dieses Land zu beherrschen, brauchen wir die Unterstützung der Nordmänner.«
    Der Mönch wollte noch etwas sagen, aber er verstummte, als er gewahrte, dass sich Dökkur zu ihnen gesellte. Wie immer hörte man ihn schon von weitem an seinen schleifenden Schritten. Er hob seine Füße kaum, denn er hasste es, über Steine und Wurzeln zu stolpern. Wenn es trotz aller Vorsicht doch geschah, schlug er hinterher wutentbrannt die Menschen, die ihm zu nahe kamen. Oft traf er sie nicht, weil sie sich duckten und er sie nicht sehen konnte. Dann schlug er sich selbst.
    »Wir müssen die Suche nach Mathilda einstellen«, sagte er. »Wir brauchen Hasculf fürs Erste hier.«
    Hawisa biss sich auf die Lippen, bis Blut floss. Erst dann konnte sie mit fester Stimme fragen: »Wie viel Land haben wir noch?«
    »Dol ist endgültig verloren. Wir haben keine Mittelsmänner mehr. In Guérande, in Morbihan und in Cornouaille gibt es wohl noch Getreue, aber sie fliehen wie wir. Und was Nantes anbelangt – es ist fest in Schiefbarts Hand.«
    »Verdammt!«, schrie Hawisa. »Je mehr Land er zurückerobert, desto schwieriger wird es für uns, unsere Ziele zu erreichen.«
    Dökkur fluchte wie sie, Bruder Daniel grinste wieder.
    Sie ließ beide stehen, trat auf die Befestigung des Walls, blickte hinaus aufs Meer. Zum ersten Mal seit der überstürzten Flucht nahm sie es bewusst wahr. Das Wasser war nicht schwarz, sondern von schlammigem Grün. Die Sonne schien am fernen Horizont zu verdunsten. Keine Klippen schieden hier das Land vom Meer, sondern breite Strände, übersät von Steinen, die von Salz und Wind grotesk verformt waren. Ihre Oberfläche schien so weich und rosig wie die Haut eines Kindes.
    Es war ein schöner Anblick und erfreute sie dennoch nicht. Die Steine logen. So war die Welt nicht, nicht glatt und weich und rosig. Wer hoffte, sich die Unschuld eines Kindes bewahren zu können, ging zugrunde.

III.
    939
    Jeden Morgen, wenn sie erwachte, spitzte

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