Kinder des Feuers
Mathilda unwillkürlich die Ohren und wartete darauf, das vertraute Meeresrauschen zu hören. Jedes Mal, wenn ihr bewusst wurde, dass es ausblieb, rief sie sich wieder ins Gedächtnis, dass sie seit kurzem nicht länger in Fécamp lebte, sondern in Bayeux. Sie vermisste das Meeresrauschen – und wunderte sich darüber. Eigentlich hatte sie sich in Fécamp nie wirklich zu Hause gefühlt und in Sprotas Hofstaat immer als Fremde. Man versorgte sie weiterhin mit allem, was sie brauchte, doch es wurde nie recht klar, welchen Rang sie einnahm und welche Aufgabe sie erfüllte. Sie lernte zu nähen, um bei der Anfertigung von Gerlocs neuen Gewändern mithelfen zu können (anders als diese trug Sprota jahrelang dieselben), auch ihre Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, wurde geschätzt, weil Sprota beides nicht beherrschte und Gerloc kaum, und alsbald hatten sich beide so an sie gewöhnt, dass sie ihre Gesellschaft nicht missen wollten. Dennoch – von der Dienerschaft wurde Mathilda stets argwöhnisch begafft. Ihre Wortkargheit wurde ihr als Stolz ausgelegt, ihre Sehnsucht nach Einsamkeit als Feindseligkeit, und Mathilda tat nichts, um diesen Vorurteilen zu widersprechen. Sie wollte sich mit niemandem gut stellen müssen. Sie wollte ja nicht bei Sprota bleiben, sondern endlich wieder in einem Kloster leben.
Doch zweieinhalb Jahre waren vergangen, ohne dass sie diesem Wunsch näher gekommen war, und als sie einige Wochen zuvor Fécamp verlassen hatte, führte der Weg nicht in geweihte Mauern, sondern nach Bayeux, einer Stadt im Westen der Normandie und nicht so nah am Meer gelegen. Mathilda gab vor, dass es ihr gleich war, wo sie lebte, weil sie fern eines Klosters, wie sie es kannte, überall eine Fremde war, doch während der Reise, die Sprota und Gerloc und den kleinen Richard zu einem konkreten Ziel führte, sie hingegen nur immer weiter fort von ihrem, wuchs ihr Hader. Sie wusste, sie sollte dankbar sein, weil sie vor ihren Widersachern in Sicherheit war, ein Dach über dem Kopf hatte und genug zu essen, aber sie quälte sich durch die Tage, hielt ihr Leben nicht für ein Leben, sondern nur für ein nutzloses Verschwenden von Zeit, und Sprota und Gerloc nicht für Freundinnen, die diese durchaus zu sein bereit waren, sondern für Fremde, die sie nicht verstanden. Wie sehr sehnte sie sich nach Maura, die wie sie stundenlang gebetet hatte und im Skriptorium neben ihr gesessen war. Maura würde verstehen, was sie fühlte, würde ihr Trachten nach einem geweihten Leben ebenso teilen wie das Befremden vor der rohen Welt und würde sie in beidem bestärken.
Doch Maura war tot, und so verbrachte Mathilda notgedrungen die meiste Zeit bei Gerloc und Sprota, auch an diesem Morgen, da sie sich im größten Raum der Burg, dem einzigen beheizten versammelt hatten. Fröstelnd scharten sich die Frauen um den Kamin, denn das Jahr war noch jung und die Frühlingssonne noch schwach. Mathilda zog sich in eine Ecke zurück, um dort auf dem Steinboden niederzuknien und ein Morgengebet zu sprechen. Sie konnte nicht so oft die Messe besuchen, wie sie es wünschte, aber versuchte doch, am Stundengebet festzuhalten. An diesem Tag jedoch fiel es ihr schwer, sich zu sammeln. Sie starrte auf die Spinnweben in der Ecke, die eine nachlässige Magd übersehen hatte, und anstatt Gott zu preisen, blieb es stumm in ihr.
Gerloc, leicht bekleidet wie immer und doch die Erste, die sich vom Kamin entfernte, weil sie es nicht aushielt, lange ruhig zu sitzen, trat auf Mathilda zu. Sie achtete nicht darauf, dass diese betete, so wie sie sich meist gegenüber allem, was andere taten, blind stellte.
»Sieh doch nur!«
Sie drehte sich aufreizend im Kreis, indes Mathilda ihren Blick starr auf die Spinnweben gerichtet hielt. Nur aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Gerloc eine neue Nadel trug, die den Überwurf über der ebenfalls neuen Tunika zusammenhielt.
»Wie der Stein funkelt! Und fühl den Stoff an! Wie weich er ist und wie glänzend.«
Sie stellte sich unmittelbar vor Mathilda, sodass dieser nichts anders übrig blieb, als sie anzusehen. Den Stoff zu befühlen weigerte sie sich dennoch.
Anfangs hatte sie geglaubt, dass Gerloc durch und durch dem Laster der Eitelkeit verfallen war. Später hatte sie erkannt, dass sie sich mit ihrer schönen Kleidung vor aller Welt als hochwohlgeboren und vornehm ausweisen wollte, als die Tochter eines Grafen, nicht als die eines blutrünstigen Piraten, vor allem als eine Frau, der man die fränkische Abstammung
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