Kinder des Feuers
Augen, schloss sie, öffnete sie wieder. Die vielen Farben kamen nicht vom Licht, sondern von Blumen, die ihr entgegengehalten wurden … Tausende Blumen. Wer hatte eine so große Hand, sie zu halten, wenn nicht Gott allein?
Aber Gott würde nicht eigennützig einen Strauß pflücken, Gott hatte die Blumen doch den Menschen geschenkt, indem er sie auf Wiesen und Weiden wachsen ließ. Und ja, jetzt sah sie eine dieser Wiesen, sie stand in kniehohem Gras, das Licht war warm, und die Blumen reckten ihr ihre Köpfe entgegen. Sie fühlte nicht länger Arvids schwere Arme, aber die Geborgenheit, die diese ihr geschenkt hatten, und das Wohlbehagen, ihn so tief in sich gespürt zu haben. Jetzt spürte sie andere Hände, zärtlich auch diese, die Hände des blonden Mannes.
Er hatte eine Blume gepflückt und kitzelte ihr damit die Nase. Sie kräuselte sie unwirsch, die Blumen interessierten sie nicht. Eine viel brennendere Frage lag ihr auf den Lippen: »Was kommt hinter dem Meer, Vater?«
Sie deutete auf die blaue, schaumgekrönte Weite.
»Hinter dem Meer kommt neues Land«, antwortete er. Seine Worte klangen kehlig, sie verstand dennoch jedes einzelne.
»Werden wir dorthin segeln?«, fragte sie aufgeregt.
»Nein, wir werden hierbleiben, für immer. In der Bretagne. Das ist deine Heimat.« Er hielt inne, dann kniete er nieder, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte, ohne den Kopf in den Nacken legen zu müssen. Er kitzelte sie nicht länger mit der Blume, sondern warf sie achtlos fort. »In deinen Adern fließt das Blut von mächtigen Männern. Vergiss das nicht. Du bist die Erbin. Im Moment bist du die einzige Erbin.«
Er umfasste ihre Schultern, und seine Hände waren nicht mehr zärtlich. Fest war vielmehr sein Griff, fest und schmerzhaft. Sie konnte kaum atmen, versuchte, sich daraus zu befreien, wand sich, begann, als dies nichts fruchtete, um sich zu treten. Aber sie traf ihn nicht, sie traf nur das … Nichts.
Mit einem heiseren Schrei auf den Lippen fuhr sie auf und blickte sich um, sah keine Blumen mehr, kein Meer und auch nicht das Gesicht ihres Vaters, nur das von Arvid, wie er neben ihr lag, ganz entspannt, tief und fest schlafend.
Sie war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, seit sie sich voller Lust und Leidenschaft geliebt hatten, aber sie war sich mit einem Mal sicher, dass das, was sie getan hatten, eine Sünde war.
Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und verharrte eine Weile – entsetzt. Er schlief noch. Seine Züge wirkten so unschuldig, so weich, so liebevoll, da war nichts von seinem Zorn, nichts von Wahnsinn, nichts von Lust. Kindlich wirkte er – so wie sie, das Mädchen auf der Blumenwiese. Doch das Mädchen war nicht irgendein Mädchen gewesen, sondern die Erbin, die einzige Erbin der Bretagne. Es war längst erwachsen geworden, und jetzt trachtete ihm jemand nach dem Leben. Und auch Arvid würde sich die Unschuld nicht bewahren können. Er würde nicht ewig weiterschlafen, sondern erwachen und sie mit jenem Entsetzen ansehen, das sie schon fühlte.
Damals im Wald war das nach ihrem Kuss auch so gewesen. Auf den Moment der Nähe war Abscheu gefolgt. Er hatte ihr nicht mehr in die Augen sehen können, er hatte sie in Fécamp im Stich gelassen.
Sie erschauderte.
Diesmal, schwor sie sich, würde er das nicht wieder tun – diesmal würde sie als Erste gehen.
Sie erhob sich lautlos. Jene Kammer, am Abend zuvor noch Hort stärkster Gefühle, wirkte in der Dämmerung armselig, ihr Körper, der solchermaßen geglüht hatte, war so kalt. Nichts von diesem Überschäumenden, Starken, Mitreißenden war zurückgeblieben, nur Entschlossenheit, seinem Trachten zuvorzukommen, sie erneut von sich zu stoßen.
Denn selbst wenn er es nicht täte, ging ihr durch den Kopf, als sie sich ankleidete, selbst wenn sein Ausdruck liebevoll und weich und unschuldig bliebe, wenn er erwachte – wie konnte sie an seiner Seite bleiben, wie ihm die Nähe einer auflasten, die nichts zu bieten hatte als bruchstückhafte Erinnerungen und Bedrohung durch einen Mörder?
Du bist die Erbin … In deinen Adern fließt das Blut von mächtigen Männern …
Mathilda verließ die Kammer, der Hof war morgengrau und nahezu menschenleer, die wenigen betrunkenen oder schlafenden Gestalten beachteten sie nicht.
Gerloc, fiel ihr ein, Gerloc könnte mehr über die Bretagne wissen, Gerloc, die eben die Hochzeitsnacht mit Wilhelm Werghaupt verbracht hatte. Ob seine Küsse sich so angefühlt hatten wie die Arvids,
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