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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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nicht bis ins Letzte nachfühlen. Das, was der anderen jäh bedrohlich schien – die Vergangenheit und das, was diese aus ihr gemacht hatte, abzulegen –, schien ihr verheißungsvoll. Kurz wünschte sie, sie könnte selbst Vergessen finden. Unvermittelt fragte sie: »Soll ich … soll ich dich doch nach Poitiers begleiten?«
    Sie war nicht sicher, welche Antwort sie erhoffte.
    Gerlocs Blick streifte wieder durch den Raum, blieb schließlich an Mathilda hängen, nahm sie aber so wenig wahr wie alles andere, so, als gäbe es sie gar nicht mehr.
    »Ich muss Adela sein, ein neuer Mensch. Ich könnt’s nicht, wenn es jemanden gäbe, der mich an Gerloc erinnert. Ich habe heute viele Tränen vergossen, an deiner Seite würde ich weiterweinen.« Sie wandte sich ab. »Nun lass mich allein.«
    Sie wirkte plötzlich sehr verzagt, aber sie wimmerte nicht mehr, und so stand Mathilda auf und ging.
    Die Burg von Rouen war größer als die von Fécamp und Bayeux – doch jetzt wurde sie ihr zu klein. Was nutzten ihr die vielen Säle, Gänge und Räume, wenn keiner ihr als Zufluchtsort erschien, an dem sie sich verstecken konnte. Vor Arvid verstecken, vor Gerloc – und ja, je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihr das –, auch vor einem Dritten. In den letzten Stunden hatte sie ihre Seele bedroht gefühlt, nicht ihren Leib. Jetzt, da sie seit Stunden ziellos umherging, glaubte sie plötzlich wieder unsichtbare Blicke über diesen Leib wandern zu spüren. Jenes Gefühl war nur vage und dennoch vertraut. Gleiches hatte sie in Lyons empfunden, wo jemand sie beobachtet hatte und sie zu vergiften suchte. Vielleicht täuschte sie sich, vielleicht waren ihre Sinne überreizt – doch sie wusste, ihr Verfolger hätte hier die beste Gelegenheit, erneut nach ihrem Leben zu greifen. Die Menschen, denen sie auf dem Weg durch die Burg begegneten, würden sie kaum schützen: Die Krieger schliefen betrunken auf dem Boden, die Mägde machten mit müden Gesichtern sauber. Ihnen allen war sie fremd, und jene, die sie kannten – so wie Gerloc –, waren einzig auf ihr eigenes Geschick bedacht.
    Sprota fiel ihr ein – sie konnte zu Sprota gehen. Deren Gleichmut würde sie beschwichtigen, sie von der Frage abhalten, warum ihr Atem so hektisch ging, warum ihr sämtliche Härchen zu Berge standen.
    Zu Sprotas Kemenate zu gehen bedeutete allerdings, zwei leere Gänge ganz allein durchschreiten zu müssen. Als dort eine Ratte an ihren Füßen vorbeischoss, schrie sie spitz auf, kurz versucht, ein Tier, das nur von den vielen Abfällen angelockt worden war, für ein Zeichen drohenden Verhängnisses zu halten. Sie biss sich auf die Lippen, als die Ratte sich in einem dunklen Winkel verkroch, beschleunigte den Schritt und ließ den Gang endlich hinter sich. Die letzten Schritte bis zu Sprotas Kemenate konnte sie ihre Panik unterdrücken, als sie feststellte, dass diese leer war, erwachte sie erneut und fühlte sich stärker an als zuvor.
    »Sprota!«, rief sie schrill und fühlte wie beim Anblick der Ratte die Ahnung wachsen, dass Unheil in der Luft lag.
    »Sie ist nicht mehr hier«, ertönte eine Stimme.
    Eine alte Frau hockte beim Kamin, sie verhieß keine neue Gefahr. Mathilda kannte ihr Gesicht, nicht ihren Namen, offenbar war es eine bretonische Verwandte von Sprota, die in ihren Träumen alte Weisen sang. Wach und bei Tage sprach sie nun krächzend weiter.
    »Sie ist nach Bayeux zurückgekehrt.«
    »Warum?«
    »Warum hätte sie hierbleiben sollen?«
    Ja, warum sollte sie sich weiter demütigen lassen inmitten so vieler Menschen, die vorgaben, sie nicht zu sehen, weil sie niemand war, den man mit einem bestimmten Rang oder Titel bedenken konnte?
    Mathilda war dennoch erschüttert. So oft hatte Sprota zu verstehen gegeben, dass sie kein Mensch war, der sich kränken ließ – und nun erwies sie sich doch zum Kreise jener gehörig, die sich das Leben mit Lügen geschmeidiger machten, in ihrem Fall der Lüge, dass es ihr genügte, Richards Mutter und Wilhelms Konkubine zu sein, nicht dessen Weib. Hier und heute wäre sie es wohl gern gewesen. Hier und heute tat es zu weh, um zu bleiben.
    Doch da sie fort war, wo sollte Mathilda Schutz finden?
    Sie ging die Gänge zurück, hörte nicht mehr die tapsenden Schritte von Ratten, sondern nur das Echo des eigenen Atems. Er war leise – und dennoch bedrohlich, und plötzlich hörte sie nicht nur den eigenen Atem, sondern den eines zweiten, keuchender und lauter. Ein Schatten huschte über die Wand. Er

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