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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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wurden und man sich, wenn man es nicht besser wusste, am Ende der Welt wähnte. Viele Norweger, so hieß es auch, hatten sich dort niedergelassen, und die Sklaven in ihrem Gefolge waren Kelten und folglich heidnisch wie sie.
    »Jene Stämme erstreben nichts Geringeres als die Unabhängigkeit von Rouen!«, rief Dökkur. »Das können wir uns zunutze machen!«
    »Nicht alle Menschen hier sind Graf Wilhelm feindlich gesinnt«, wiegelte Bruder Daniel ab. »Es sind Männer aus dem Cotentin, die seine Leibgarde bilden – weil sie als besonders stark, mutig und treu gelten.«
    Woher wusste er das alles? Hatte er nicht jahrelang Einsamkeit gesucht? Nun, vielleicht hatte er gerade deshalb so spitze Ohren, die das entfernteste Flüstern vernahmen und nichts vergaßen. Für einen Sklaven war das Wissen sein einziger Besitz.
    »Das stimmt«, gab Dökkur zu. »Manche Cotentiner kämpfen auf seiner Seite – auch jetzt, im Kampf um Montreuil. Aber wenn sie kämpfen, werden auch viele fallen – und ihre Mütter und Väter und Geschwister fragen sich, ob sich ihr Tod für einen frömmelnden, fernen Grafen lohnt.«
    Sollte sie tatsächlich auf die Tränen von Müttern setzen? Macht erlangte oder verlor man, wenn Blut floss … keine Tränen.
    Allerdings hatte Dökkur in einem recht – sie brauchten Verbündete.
    »Nach der Rückeroberung von Montreuil hat Arnulf von Flandern übrigens Rache geschworen«, sagte Hasculf. »Wilhelm wird die nächste Zeit beschäftigt sein, gegen ihn in den Krieg zu ziehen – und blind sein für alles, was hier im Cotentin geschieht.«
    »Nun gut, dann lasst uns Kontakt zur Bevölkerung aufnehmen. Lasst uns prüfen, wie laut der Ruf nach Freiheit hier erschallt und ob die Knaben von heute Morgen unsere Krieger sein könnten. Ansonsten aber können wir nichts tun.«
    »Das heißt, wir geben auf«, bemerkte Dökkur bitter.
    »Warten und aufgeben sind zweierlei Sachen.«
    Hawisa wandte sich ab und ging von dannen. Auch wenn Dökkur blind war – sie hatte Angst, dass er fühlen könnte, was in ihr vorging.
    Sie war nicht nur müde, erschöpft und ausgelaugt. Sie war verzagt. Das letzte Mal hatte sie sich so klein gefühlt, als er starb – der Mann vom Drachenschiff, der Mann ihres Lebens. Die Christen behaupteten, dass der heilige Benedikt selbst vor ihn getreten sei und seinen nahen Tod angekündigt habe. Was für ein Unsinn! Er hätte Benedikt – ob ein Geist oder aus Fleisch und Blut – eigenhändig erschlagen.
    Die Heiden wiederum erzählten sich, dass im Augenblick seines Todes ein schweres Unwetter ausgebrochen sei, dass die Erde gebebt habe und er darin versunken sei. Auch das hielt sie für Unsinn, wenngleich sie bedauerte, dass sie seinen Leichnam tatsächlich nie zu Gesicht bekommen hatte und keiner wusste, wo genau er begraben lag. Vielleicht konnte man ihn gar nicht begraben, weil er wie viele tote Helden die Gestalt eines Tieres angenommen hatte – die des Stiers, des Adlers oder des Wolfs.
    Als die Nachricht von seinem Tod gekommen war, hatte Eirinn sie zu trösten versucht. Hawisa hatte sie weggestoßen und geschrien: »Du hast ihn nie gemocht! Du hast nie geglaubt, dass ich ihn trotz allem lieben kann! Wag nicht, mich zu trösten!«
    Das Schreien hatte ihr Kraft gegeben, aber als Eirinn schwieg, musste sie auch schweigen, und der Schmerz hätte sie fast zerrissen.
    Der Schmerz pochte immer noch in ihr, wenngleich dumpfer als einst. Sie starrte auf das Meer. Es war glatt, nur an einer Stelle erhob sich ein spitzer Stein. Wellen bäumten sich auf, schlugen gegen ihn, aber konnten ihm nichts anhaben.
    Etwas in ihr war so unverwüstlich, dass sie den Schmerz überlebt hatte. So zäh, dass sich selbst der gefräßige Tod an ihr seine Zähne ausbiss. Vielleicht überdauerte es auch jetzt die Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit, nachdem Mathilda erneut entkommen war. Sie war sich nicht sicher, ob dieser Wesenszug dem harten, spitzen, schroffen Stein glich oder dem geduldigen, dunklen, tiefen Meer.

V.
    942
    Die Männer versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm. Wenige Wochen zuvor war der Schnee geschmolzen und die Somme übers Ufer getreten. Der Wasserstand war wieder zurückgegangen, der Fluss floss nicht mehr wild und rauschend, sondern glich einer braunen Brühe, in der verwittertes Treibholz schwamm, aber der Boden war noch aufgeweicht.
    Arvid stand weit genug vom Ufer entfernt, um nicht in Gefahr zu geraten, aber er fror genauso wie die anderen Männer an diesem kalten Wintertag. Sie

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