Kinder des Holocaust
einzige Satellit, der die Erde umkreiste, aber nur in diesem Satelliten gab es noch Leben. In den übrigen Raumstationen lebte längst niemand mehr. Sie hatten allerdings auch nicht eine solche Ausstattung wie Lydia und er verfügbar gehabt, ursprünglich für zehn Jahre Aufenthalt auf einer anderen Welt bestimmt gewesen. Er war richtig gut dran: außer Nahrung, Wasser und Luft standen ihm, in Länge umgerechnet, eineinhalb Millionen Kilometer an Video- und Musikkassetten zur Verfügung, die ihm zur Unterhaltung dienten. Und damit war er nun dazu imstande, sie zu unterhalten – die Überlebenden jener Zivilisation, die ihn in die Kreisbahn geschossen hatte. Das Vorhaben, ihn zum Mars zu befördern, war mißlungen – zu ihrem Glück. Seither hatte der Fehlschlag sich für sie auf bedeutungsvolle Weise positiv ausgezahlt.
»Huuudi-huudi-hu«, sang Walt Dangerfield ins Mikrofon, in den Sender, der seine Stimme über Millionen von Kilometer hinweg zur Erde hatte ausstrahlen sollen, nicht nur diese paar Hundert Kilometer weit. »Ihr könnt nun allerlei Ratschläge hören, was sich alles mit dem Zeitschalter aus einer alten AEGWaschmaschine anfangen läßt. Diese Hinweise stammen von einem Technikus im Gebiet von Genf – vielen Dank dafür, Georg Schilper! Ich weiß, daß alle hocherfreut sein werden, diese aktuellen Tips mit deinen eigenen Worten zu hören.« Er ließ die Aufnahme mit den persönlichen Erläuterungen des Technikus anlaufen und über den Sender gehen; nun würde die gesamte Gegend rings um die Großen Seen der Vereinigten Staaten von Georg Schilpers Erkenntnissen erfahren und sie von vornherein doppelt gut anwenden können. Die Welt hungerte nach all dem Wissen, das die verschiedensten voneinander getrennten Regionen hervorbrachten, dem Wissen, das ohne ihn – Dangerfield – auf die Umgebung seines Aufkommens begrenzt bliebe, vielleicht für immer.
Als die Aufnahme von Georg Schilpers Erfahrungsbericht zu Ende war, legte er die im voraus besprochene Kassette mit seiner Lesung des Buchs Der Menschen Hörigkeit ein und erhob sich ungelenk aus dem Sitz.
In seinem Brustkorb trat wiederholt ein Schmerz auf, der ihm Sorge bereitete; eines Tages hatte er ihn zum erstenmal unterhalb des Brustbeins verspürt, und nun holte er zum wohl hundertstenmal einen der Mikrofilme mit medizinischen Informationen heraus und begann nochmals den Abschnitt über das Herz zu lesen. Fühlte es sich an, als drücke mir jemand mit dem Handballen die Luft aus der Brust? überlegte er. Jemand der sich mit seinem ganzen Gewicht gegen mich stemmt? Es fiel ihm schwer, sich darauf zu besinnen, wie »Gewicht« sich überhaupt anfühlte. Oder sticht es nur? Und wenn ja, wann? Vor oder nach dem Essen?
In der vorangegangenen Woche hatte er eine Funkverbindung zu einer Klinik in Tokio hergestellt und den dortigen Ärzten die Symptome beschrieben. Die Ärzte hatten nicht recht gewußt, welche Auskunft sie ihm erteilen sollten. Was nötig wäre, hatten sie ihm übermittelt, war ein Elektrodiagramm; doch wie sollte er sich selbst hier oben einer solchen Untersuchung unterziehen? War eigentlich noch irgendwer zu so etwas in der Lage? Die japanischen Ärzte lebten anscheinend in der Vergangenheit, oder der Wiederaufbau war in Japan schon weiter vorangeschritten, als ihm klar war; als überhaupt irgend jemand ahnte.
Sowieso erstaunlich, daß ich so lange überlebt habe, dachte er. Allerdings kam die verflossene Zeitspanne ihm nicht sonderlich lang vor, denn sein Zeitgefühl hatte sich stark zersetzt. Und er war stets sehr beschäftigt; auch in diesem Moment schnitten sechs seiner Rekorder die Funktätigkeit auf sechs der meistbenutzten Frequenzen mit, und er mußte sie abhören, noch ehe die Lesung des Maugham-Buchs endete. Womöglich befand sich gar nichts auf den Bändern, vielleicht jedoch stundenlange bedeutsame Durchsagen. Man wußte es nie im voraus. Könnte ich bloß die Hochleistungssender verwenden, dachte er. Doch drunten existierten keine von den erforderlichen Dekodern mehr. Stunden hätten zu Sekunden komprimiert werden können, und umgekehrt hätte er jeder Region eine jeweils komplette Sendung bieten können. Wie die Dinge standen, mußte er alles in kleineren Informationspaketen und mit vielen Wiederholungen ausstrahlen. Auf diese Weise dauerte es Monate, einen einzigen Roman vorzulesen.
Doch zumindest war es ihm gelungen, die Frequenz des Satellitensenders so weit zu senken, daß die Menschen drunten seine Sendungen mit
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