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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Büsche schlagen, Goran. Gib du nur acht, dass mir kein Upir an den Arsch springt.« Er verschwand auf die andere Seite.
    Goran schluckte und trank noch mehr von dem Branntwein. Wie gerne hätte er das Dickicht abgefackelt, damit sich nichts darin verbergen konnte.
    Einer der Hunde hob plötzlich den Kopf, die Lefzen zogen sich zurück, und die Ohren stellten sich auf, seine breite, lange Schnauze zeigte auf den Wald; gleichzeitig blökte furchtsam ein Schaf und versuchte, sich in den Mittelpunkt der Herde zu schieben. Die Bewegung setzte sich fort, gleich darauf waren die Tiere in eine langsame, aber beständige Flucht verfallen, die sie weg vom Feuer auf die offene Fläche führte.
    »Nein, bleibt stehen, ihr …!« Goran sprang auf, nahm den Hirtenstab und pfiff nach den Hunden, damit sie ihm halfen, die Herde im Zaum zu halten. »Sinan, komm! Die Schafe gehen uns durch.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er los, um die Tiere einzuholen.
    Die Herde fächerte nun schneller auseinander, schwenkte nach rechts und links, während die Hunde bellend umhersprangen und versuchten, sie aufzuhalten.
    Goran wusste nicht, wohin er sich zuerst wenden sollte. Mehr als zehn Tiere hatte er niemals gehütet, eine solche Vielzahl überforderte den jungen Mann. Er entfernte sich weiter und weiter vom Karren, hinter dem Sinan kauerte.
    Der ältere Hirte hatte seine Notdurft verrichtet und sah den jungen unerfahrenen Mann durch die Gegend springen, hörteihn fluchen und bitten. Natürlich scherten sich sie Schafe nicht um seine freundlichen Worte, sie trabten der Sonne nach. Weg vom Wald. »So ein Idiot.« Sinan lachte.
    Der Schatten, der plötzlich auf ihn fiel, ließ ihn den Kopf heben. Über ihm auf dem Dach saß eine Gestalt in der Hocke, eine Hand hatte den Rand umfasst, als wollte sie die Latten herausreißen.
    Sinan sah rote Haare im Sternenlicht schimmern, ansonsten konnte er nur raten, ob es sich bei dem unheimlichen Besucher um einen Mann oder eine Frau handelte. Doch er ahnte, was ihn heimsuchte.
    »Nein«, flüsterte er und schlug das Kreuz. »Jesus und Maria, steht mir bei!«
     
    Scylla starrte den Mann an. Sein warmer, scharfer Geruch, der ihr zu Kopf stieg und sie benebelte, verhieß Blut. Der Durst in ihrer Kehle machte sie schier rasend vor Begierde. Sie hörte sein Herz pochen, und jeder Schlag war eine Aufforderung, über den Menschen herzufallen, ihn leer zu saugen, ihm das Leben zu nehmen und sein Fleisch zwischen den Zähnen zu zerreißen.
    Aber es gelang ihr nicht, sich zu bewegen.
    Das merkwürdig vertraute Antlitz des Mannes weckte Erinnerungen in ihr.
    Die Bilder blitzten grell vor ihrem inneren Auge auf, eines folgte auf das andere. Die Mühle, die großen Gläser mit den Präparaten darin, sezierte Leichen, das Gesicht ihres Vaters – aus dessen Augen abrupt Blut spritzte!
    Scylla sah ihn unter den Angriffen der Dörfler niedergehen. Sie hörte das Prasseln des sich ausbreitenden Feuers, die Schreie der Männer, die er bei der Verteidigung seines Lebens tötete – und plötzlich sah sie die Züge von Sinan mitten in der Menge der Angreifer.
    »Du warst einer von ihnen«, ächzte sie und erschrak, dass kaum mehr als ein Ächzen erklang. Nach beinahe einem Jahr benutzte sie zum ersten Mal wieder ihre Stimmbänder.
    Die Wucht der Erinnerungen traf Scylla so unvermittelt, dass sie sich an der Holzkante des Dachs festklammern musste, um nicht hinunterzustürzen. Sie entsann sich an alles: An ihre Jugend, ihre Mutter, wie ihr Vater sie abgeholt hatte, die Erlebnisse mit Giure … Wie sie ihr Zuhause, die Mühle, verloren hatte …
    Scylla kämpfte sich auf die Beine und zeigte mit dem Dolch auf Sinan, die Hand zitterte. »Ihr habt mich …«
    »Jesus Christus, steh mir bei!«, schrie der Hirte und machte einige Schritte rückwärts, bis er sich umwandte und davonrannte.
    Scyllas Beine gaben nach. Sie brach auf dem kleinen Dach zusammen, die Waffe entglitt den kraftlos gewordenen Fingern und fiel auf die Erde. Ihr Verstand zeigte ihr immer neue, vergessene Erinnerungen und versetzte ihr einen Schlag nach dem anderen. Sie kontrollierte die Flut aus Bildern nicht, sondern wand sich unter ihr.
    Und mit jedem Aufleuchten verlor sie mehr von dem Animalischen, das Instinktwesen in ihr büßte die Oberherrschaft über ihren Verstand ein. Unter Schmerzen kehrte das Denken zurück.
    Sie weinte, barg das Gesicht in den Händen, rollte sich zusammen und verlangte laut nach Gnade. Doch sie erfuhr keine. Stattdessen

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