Kinder des Judas
Nacht beginnen, in der ich mich aus den Ruinen meines Zuhauses erhob und nichts weiter war als ein wildes Tier, das nach dem Lebenssaft der Menschen dürstete und ihn sich nahm, wann immer es Gelegenheit dazu erhielt.
Vielleicht ist es eine Gnade, dass ich mich kaum an dieses erste Jahr erinnere, das Blutjahr, in dem ich durch die Wälder zog, blindlings und ohne Orientierung. Die Morgenröte befahl mir, mich vor dem Licht in Sicherheit zu bringen, und die Dämmerung lockte mich wieder hervor. Mehr wollte ich nicht: vegetieren wie Vieh, fressen und schlafen.
Dazu kamen die vielen Eindrücke, die verwirrend und neu für mich waren. Mein Körper, meine Sinne hatten sich verändert und ermöglichten es mir, Dinge zu tun, die ein menschliches Lebewesen nicht vermag. Es dauerte, bis ich sie beherrschte, ohne dabei zu ahnen, dass so viel mehr in mir schlummerte.
Wie ich bereits vorher anmerkte: Ich entsinne mich kaum an dieses Jahr. Mein Verstand war nahezu ausgemerzt, beherrscht von Instinkten und Trieben.
Bis zu jener Nacht, als der Herrgott ein Einsehen hatte.
7. September 1678
Osmanisches Tributland
Scylla überwand den umgestürzten Baum, der ihr den Weg versperrte, mit einem mühelosen Sprung, landete leise auf dem nadelbedeckten Waldboden, hob den Kopf in den Wind undnahm die Witterung neu auf: Es roch nach Schafen und Menschen. In ihrem Durst kamen ihr beide gelegen.
Sie kicherte, gleich darauf gab sie ein schlürfendes Geräusch von sich, um den Speichel, der sich gebildet hatte, zu schlucken; danach eilte sie geduckt weiter, strebte den dichtstehenden Bäumen zu.
Die zerfetzte Kleidung, welche sie am Leib trug, erzählte eine besondere Geschichte. Sie setzte sich aus den Überresten der Kleider ihrer menschlichen Opfer zusammen, denn ihr alter Rock war schon längst zerschlissen und zerfetzt. Sie nahm sich, was sie brauchte.
Die roten Haare standen verfilzt und dreckig vom Kopf ab, Laub und Schmutz hatten sich darin verfangen; auch von ihrem hübschen Gesicht war kaum noch etwas zu erkennen. Wenn sie bei ihren ruhelosen Streifzügen nicht gerade in einen Tümpel fiel oder vom Regen überrascht wurde, gab es wenig Gelegenheit, mit Wasser in Berührung zu kommen. Flüsse, Bäche und kleinere Rinnsale mied sie, setzte keinen Fuß hinein und überquerte sie folglich nicht, nicht einmal über Brücken oder Stege. Sie fürchtete sich schrecklich vor fließenden Gewässern.
Scylla besaß keinerlei Erinnerung mehr an ihr früheres Leben in der Mühle und in den Laboratorien, an die schönen Abende mit ihrem Vater, den aufregenden Kampf mit Frans oder die erniedrigende Untersuchung in der Cognatio. Was für sie zählte, war leben und fressen.
Gerade jetzt regierte der Hunger Scylla einmal mehr. Der Geruch von Schafen und Menschen wirkte hypnotisch auf sie.
Noch war der obere Rand der untergehenden Sonne als dunkelroter Bogen zu sehen, aber der Schutz der Bäume erlaubte Scylla, sich weit nach vorne zu pirschen und sich eine gute Stelle auszusuchen, von wo sie ihren Angriff führen konnte.
Sie sah durch die Zweige hindurch zwei Schäfer vor ihremkleinen Wagen an einem Feuer sitzen, die Herde graste in fünf Schritten Entfernung, während zwei Hütehunde zwischen den Halmen lagen und die Schafe im Auge behielten, solange die Menschen mit Essen beschäftigt waren.
Scylla knurrte. Hunde waren nicht gut. Sie verrieten sie ständig und verteidigten dazu noch ihre Herren, auch wenn sie im Kampf gegen sie keine Aussicht auf Erfolg hatten. Ihre rechte Hand legte sich an den Griff ihres Damaszenerdolches, den sie am Gürtel auf dem Rücken trug. Sie wartete ungeduldig in den lang und länger werdenden Schatten, bis die Sonne gänzlich vom Himmel verschwunden war, und schlüpfte wie eine Schlange durchs Unterholz. Nicht ein Ästchen knackte unter ihren Sohlen.
Goran, der jüngere der Männer am Feuer, sah von seinem Brot auf, das er sich mit einem Stock über den Flammen röstete. Er hatte wie sein Freund einen langen, schweren Hirtenmantel um sich gelegt, die Füße steckten in Stiefeln. Seine Augen schweiften über das Dickicht zwischen den Bäumen.
»Was ist?« Sinan drehte die Wurst hin und her, damit sie nicht verbrannte. Sie duftete unglaublich gut, neben sich hatte er den Trinkschlauch mit Branntwein stehen. Er reckte die Sohlen gegen das Feuer.
»Ich weiß nicht.« Goran konnte nichts entdecken, was sein schlechtes Gefühl begründete. Ein Blick zu den Hunden, die ruhig an ihren Plätzen lagen,
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