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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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führte ihr die Erinnerung immer wieder die Züge der überlebenden Dörfler vor Augen, und eine finstere Stimme in ihr verlangte zornig und hasserfüllt nach Rache. Rache für ihren eigenen Tod.
    »Nein«, schluchzte sie, versuchte aufzustehen und verlor erneut das Gleichgewicht. Sie stürzte vom Karren, fiel auf die Erde und blieb wimmernd liegen. Es tat ihrer Seele unendlichweh, mit dem alten Leid gefoltert zu werden, doch dieser heilsame Schmerz spülte den Wahnsinn davon, der sie so lange als Tier hatte leben lassen.
    Scylla lag viele Stunden lang in der Dunkelheit, ächzte und jammerte, bis auch der letzte Rest von wilder Verrücktheit aus ihrem Hirn gewichen war.
    Kurz bevor sich die Sonne erhob, suchte sie den Dolch, kroch auf allen vieren in den Wald zurück und schlüpfte in einen hohlen Baumstamm, wo sie den Tag verbrachte.
     
    20. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 21.01 Uhr
     
    Das war jene Nacht, in der sich mein Leben in neue Bahnen fügte. Mein Verstand war auferstanden – und schenkte mir eine stärkere Rationalität, als ich sie vorher gekannt hatte.
    Ich akzeptierte, dass mein Vater ein Upir gewesen war, ein Vampir, ein Kind des Judas, und dass sein untotes Erbe sich mit mir fortsetzte. Nach und nach erkundete ich meine neuen Fertigkeiten, lernte sie besser einzusetzen und nicht blindlings wie ein Tier darauf zurückzugreifen. Das unterschied mich von anderen Vampiren, die einzig für den Hunger lebten. Hirnlose Bestien – das dachte ich zumindest.
    Ich hielt mich für etwas Besseres, über allen Menschen und Vampiren stehend, überlegen. Eine Göttin der Nacht.
    Einige Rätsel blieben indes unbeantwortet: zum Beispiel, wie lange ich als Vampirin lebte? Ich erinnerte mich an das, was ich in den Büchern gelesen und mein Vater mich gelehrt hatte. Es gab ganz verschiedene Vorstellungen darüber, mal war von Wochen, mal von Monaten, mal von Jahren die Rede, ehe ein Untoter für alle Zeiten verging – oder aber, wie es manchmal hieß, wieder zu einem echten Menschen werden konnte.
    Doch das wollte ich keinesfalls. Meine neue Existenz besaß zu viele Vorteile, die Schwächen eines Menschen hatte ich überwunden. Ich plante, wie ich dank meiner neuen Fähigkeiten meine Mörder zur Rechenschaft ziehen konnte. Es sollte nicht zu überstürzt sein, aber ich wollte sie auch nicht warnen. Es durfte nicht der Verdacht aufkommen, dass ich ihren Angriff überlebt hatte. Dabei war ich mir nun sicher, dass nichts mich töten konnte.
    Einzig vor der Sonne beugte ich mein Haupt, aber im Schatten, in verlassenen Krypten, in den Gewölben von alten Häusern ließ es sich aushalten.
    Anfangs.
    Ich kam jedoch alsbald zu der Meinung, dass einer Göttin der Nacht eine adäquatere Residenz zustand.
     
    9. Juli 1679
Osmanisches Tributland
     
    Es war für diesen blendend schönen Tag eine Jagd der christlichen Landpächter angesetzt, und am Ende hatten nicht weniger als drei Hirsche, zwei Wildschweine, sieben Rehe und ein Bär ihre Leben bei der Hatz gelassen. Die Verluste auf der Seite der Menschen hielten sich in Grenzen; zwei Treiber waren verwundet worden, einer durch einen Keiler, der andere durch den Bären.
    Wie immer fand die Jagd unter der Aufsicht von Vertretern der türkischen Obrigkeit statt, die sämtliche Waffen der Treiber danach wieder einzogen. Die Landpächter durften ihre Schwerter behalten, sie hatten entsprechende Abgaben bezahlt und sich das Recht dazu erkauft. Mit Münzen ließ sich vieles regeln.
    Die Gesellschaft traf sich abends auf dem Gut von JakobusStracz, um sich im großen Saal die Geschichten der Jagd zu erzählen und mit den Schüssen zu prahlen. Um sie herum schwirrten die Bediensteten und reichten Essen und Weine. Musikanten spielten dazu heitere Melodien, denen bislang aber niemand recht Gehör schenken wollte. Es wurde laut gelacht und gesprochen, die Ereignisse des Tages erstanden in Worten und Gesten der Erzähler neu.
    Unter den Tagelöhnern, die eigens für dieses Ereignis eingestellt worden waren, befand sich auch Scylla. Sie trug das gestohlene Leinenkleid einer Magd, die roten Haare lagen unter einer Haube verborgen, sonst hätte sie inmitten der schwarzhaarigen Frauen zu viel Aufsehen erregt.
    Sie hatte ihren Auftritt gut vorbereitet und sich bereits einen aus der Schar der Pächter ausgesucht, der hoch in der Gunst des örtlichen Kadis und der osmanischen Provinzregierung stand: Jakobus Stracz selbst.
    Der kräftige, dunkelhaarige Mann mochte Mitte vierzig sein,

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