Kinder des Judas
Querbalken, von denen der untere schräg verlief: Orthodoxe und griechische Christen fanden also auf diesem Friedhof gleichermaßen ihre letzte Ruhe, wobei die orthodoxen deutlich in der Überzahl waren.
»Miliza, Miliza, Miliza«, murmelte Glaser und suchte in der Liste, auf der die verdächtigen Toten standen. »Im Alter von sechzig Jahren verstorben.« Er stapfte an den Gräbern entlang, bis er sich eine Ruhestätte ausgesucht hatte und stehen blieb. »Heißt das Miliza?« Er zeigte auf den Namen. »Gestorben ist sie vor sieben Wochen«, sagte er zum Popen, der neben ihm anhielt. »Und sie soll die Erste von ihnen gewesen sein?«
Ignaz nickte. »Sie hat Schaffleisch gegessen. Fleisch von Tieren, die durch den Vampir Paole ums Leben kamen.«
»Gut.« Glaser winkte die Helfer zu sich, die Hacken und Schaufeln mit sich trugen. »Anfangen.«
Der Pope hob das Bildnis, das er die ganze Zeit mitgeschleppt hatte, höher und betete halblaut. Erst unter diesem Schutz begannen die Männer ihre Arbeit und gruben sich durch den Schnee und die merkwürdigerweise sehr lockere Erde, bis sie auf den Sarg stießen; behutsam legten sie ihn frei. Ein Raunen ging durch die Reihen.
»Gott steh uns bei!« Viktor betrachtete bestürzt die zerstörten Schrauben, mit denen Deckel und Korpus verbunden gewesen waren; auch das Holz wies Bruchspuren auf.
»Öffnen«, befahl Glaser nervös. Die Offiziere um ihn herum hatten die Säbel gezogen.
Der Pope hielt das Heiligenbild über die Grube und betete noch lauter.
Wuchtige Schläge zerstörten den halbgeborstenen Deckel, die Trümmer wurden von den Männern hastig zur Seite geräumt.
Viktor, der Medicus und alle, die am Rand standen, sahen Miliza.
Ihr Leib war kein bisschen verfault und wies keinerlei Zeichen des Verfalls auf. Ihr Mund stand offen, frisches helles Blut floss daraus hervor, rote Bahnen liefen auch aus den Nasenlöchern. So, wie sie dalag, hätte man sie durchaus für verstorben halten können – doch ihr Bauch, der sich prall emporwölbte, verriet, dass sie gerade erst eine stattliche Mahlzeit zu sich genommen hatte. Genau so entsetzlich wie der Anblick Milizas war das gesamte Bild, das sich den entsetzten Männern bot: Der Leichnam schwamm in Blut, das nach Viktors Einschätzung unmöglich von einer einzigen Person stammen konnte.
»Heiliger Demetrius«, stöhnte Ignaz und unterbrach die Litanei.
»Das«, hauchte Glaser und ging am Rand der Grube in die Hocke, »ist keineswegs üblich.« Er scheuchte die Helfer aus dem Loch, rutschte hinab und drückte und schob an dem Leichnam herum. »Das Herz schlägt nicht.«
Einer der Dorfbewohner, der die Untersuchung des Medicus beobachtet und richtig gedeutet hatte, rief etwas, das Ignaz übersetzte, während der Rest der Menschen zustimmend murmelten: »Das muss es auch nicht. Erst in der Nacht, wenn sie herauskommt. Sie ist eine lebende Tote.« Der Pope sah den Medicus herausfordernd an. »Braucht es noch mehr Beweise für die Vampire?«
Glaser antwortete nicht. Er war zu sehr mit der Untersuchung beschäftigt und sah aus, als sei ihm nichts von dem, was er hier sah und ertastete, jemals untergekommen. »Öffnet die anderen Gräber ebenfalls«, brüllte er. »Ich will sie alle sehen.« Angeekelt wischte er sich die Finger am Leichentuch ab und wuchtete sich mit Hilfe der Offiziere aus der Grube.
Die Menschen spien auf Miliza, schüttelten die Fäuste und warfen Steine auf sie hinab.
»Aufhören!«, schrie Glaser. »Niemand rührt sie an, bis die Untersuchung abgeschlossen ist.« Er jagte die Helfer zum nächsten Grab, die Dörfler folgten ihnen.
Viktor schluckte, würgte und beherrschte sich schließlich. Doch nun verhinderte das drückende Gefühl in seinem Hals, dass er einen Schrei ausstoßen konnte: Die Lider der Toten hoben sich ganz langsam, dann richtete sich der Blick aus den grünlichen Augen auf ihn!
Keuchend stolperte er rückwärts, fiel über ein Kreuz und stürzte neben einem Grab in den Schnee. Erst dann übergab er sich.
XV.
Kapitel
23. Dezember 2007
In der Nähe von Belgrad, 18.21 Uhr
E s gibt den Wald immer noch – ein unheimliches Bollwerk aus Stämmen, Ästen und Nadeln, aus dem sich die Krähen wie Späher erheben und einem unsichtbaren Feldherrn melden, was sich auf dem Weg tut.
Ich bin versucht zu glauben, dass es die gleichen Vögel sind, die vor mehr als dreihundert Jahren bei meiner ersten Ankunft aufgestiegen sind, um mich zu beäugen. Ich fühle mich überwältigt, ich schaudere
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