Kinder des Judas
und zittere, während ich den Kopf in den Nacken lege und an einem Stamm entlang nach oben schaue. Zumindest sind es die gleichen Bäume – oder?
Mein Geländewagen parkt vor dem dichten Unterholz, ich stehe neben ihm, meine rechte Hand liegt auf dem kalten Wagendach.
Ein schmaler Pfad führt in den Wald, auf den höchstens ein Reiter oder ein Mensch passt, aber kein modernes Auto. Es ist nicht der alte Weg, an den ich mich erinnere und über den ich oft mit einer Kutsche gefahren wurde. Was mochte sich hier noch verändert haben? Ich weiß, dass sich in der Mitte des Waldes ein Hügel erhebt – doch ich weiß nicht, was ich darauf vorfinden werde. Es ist mir auf der ganzen Fahrt nicht gelungen, einen Blick darauf zu erhaschen, irgendetwas war immer im Weg.
Ich löse mich vom Geländewagen und drücke den elektronischen Türschließer, es fiept kurz, und klackend verriegeln sich die Schlösser.
Zu meinen Füßen steht der Rucksack mit einigen wenigen Ausrüstungsstücken und etwas zu essen. Ich sehe in meiner nagelneuen Tarnkleidung aus wie eine betuchte und verrückte Wanderin, denn niemand sonst käme auf die Idee, sich bei diesem Wetter um diese Uhrzeit allein in den Wald zu begeben. Dicke Stiefel schützen meine Füße, Handschuhe und eine Wollmütze vervollständigen mein Outfit.
Eine Taschenlampe habe ich zwar dabei, doch ich werde sie nicht benötigen. Der Schnee reflektiert das Silberlicht der aufziehenden Nachtgestirne, und selbst ohne diesen hellen Schein bräuchte ich keine Lampe.
Der Wald ist uralt und königlich, er verlangt Ehrfurcht von mir. Er knarrt leise, Äste reiben aneinander, als wollten sie mir mit den Geräuschen sagen: Wir kennen dich. Es käme mir wie eine Beleidigung gegenüber diesen ehrwürdigen Bäumen vor, mich moderner Hilfsmittel zu bedienen. Eine antike Laterne, mit Kerze oder Öl als Quelle, das würde ich mir gefallen lassen, aber kein seelenloses Batterien-Licht aus LEDs.
Die Krähen überfliegen mich in luftiger Höhe, kreisen mehrmals und kehren ungerührt zu ihren Nestern irgendwo im Wald zurück, als wäre ich ihre Aufmerksamkeit nicht wert.
Ich werfe mir den Rucksack auf die Schulter und marschiere los, glücklich, durch die körperliche Anstrengung ein Ventil für meine merkwürdige Stimmung zu haben. Seit dem Verlassen von Leipzig ist mein Hass auf Marek stetig gewachsen, der mich durch seine Herausforderung zu Taten gezwungen hat, die nicht notwendig waren. Die mich zu einer vielfachen Mörderin gemacht haben.
Die Erinnerung an die alte Zeit wird immer überwältigender. Allein der Klang der Sprache, als mich der Grenzschützer nach meinen Papieren gefragt hat, hat mich in die Vergangenheit eintauchen lassen. Sofort waren sie da, die Erinnerungen. Gute wie schlechte.
Ich frage mich seit den ersten paar Kilometern, was Marek erreichen will. Es kommt mir unsinnig vor, angefangen von der Planung bis zum Schauplatz unseres Gefechts. Er hätte mich ebenso in Leipzig töten können, aber er wollte, dass ich zur Windmühle reise. Der Hass auf ihn treibt mich, doch mein Verstand meldet Zweifel daran an, dass Marek wirklich meinen Tod möchte.
Dafür will ich seinen. Vielleicht ist es das, was er beabsichtigt: zu sterben. Er ist im Gegensatz zu mir sehr gealtert, das Dasein wird ihm keinen Spaß mehr bereiten. Und wie es sich für ein Judaskind gehört, legt er nicht selbst Hand an sich, sondern möchte im Kampf sterben, einen glorreichen Abgang haben.
Aber passt dieses versteckte Aufgeben zu Marek?
Schnee knirscht unter meinen Profilsohlen, ich werde Teil des Zwielichts und verwandele mich im Schatten der Bäume in ein Schemenwesen. Es ist totenstill, seit die Krähen Ruhe gegeben haben.
Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit, denn ich trage sie im Herzen. Doch diese Stille lastet schwer auf mir. Früher war mir jeder Meter des Waldes vertraut, manche der Bäume kannte ich vielleicht als Schösslinge. Inzwischen schieben sie sich wie Säulen in den Himmel und versuchen, die Wolken zu stützen.
Ich räuspere mich, hole Luft und tue etwas, was ich – ja, wie lange eigentlich? – unendlich lange nicht mehr getan habe: Ich singe in meiner alten Sprache.
Die Melodie eines Liedes, das mich meine Mutter gelehrt hat, verlässt meine Kehle und erklingt im Wald. Ich singe es nur ihr zu Ehren: das Lied der traurigen Weiden.
Schnee rieselt zu Boden, kleinere Tiere huschen vor mir davon, doch ansonsten unterbricht niemand meine Darbietung. Wieder erschaudere ich, die
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