Kinder des Judas
sehe durch die Schlitze einer Bodenklappe, dass sich umgestürzte Regale wie Barrikaden vor den Durchgang geschoben haben. Es kostet mich einiges an Kraft, sie zur Seite zu bewegen, Schnee rieselt auf mich herab, und endlich stehe ich in dem Bereich, der einmal ein kleines Heiligtum gewesen ist.
Über mir gibt es nichts als den dunklen Winterhimmel und Millionen von Sternen; die Wände reichen nur noch etwas mehr als zwei Meter in die Höhe und die Decke ist größtenteils verschwunden. Drei der Regale sind umgestürzt, und fast könnte man meinen, das sei Absicht der Bibliothek gewesen, um zu verhindern, dass sich Unbefugte Zutritt verschaffen. Der Rest steht noch, von schimmerndem Eis und glitzerndem Schnee bedeckt, als seien die verrotteten Almanache, Nachschlagewerke und Bücher von Väterchen Frost verflucht worden.
Gelegentlich rieseln Flocken aus dem Himmel und unterstützen das Märchenhafte, das von diesem Anblick ausgeht. Kein Hollywoodfilm hätte es besser machen können.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass sich nach dem Brand ein Judaskind der Mühle angenommen und sie weitergeführt hat. Kein Müller hatte diesen Raum so mit Büchern gefüllt, wie mein Vater es einst getan hatte.
Ich wandele durch das Labyrinth, meine Finger berühren die erstarrten Einbände, wischen die weiße Schicht davon ab. Die Werke sind restlos verwittert, vernichtet von den Einwirkungen der Natur; nur dort, wo ein Stück der Decke wie ein Schild erhalten geblieben ist, wirken sie, als seien sie eben erst aufgestellt worden. Einige wenige der Bücher stammen aus den Beständen meines Vaters, die meisten kenne ich nicht.
Wie sehr bedauere ich, dass ich sie damals zurückgelassen habe. Aber Wissen in dieser Form bedeutet unglaublichen Ballast, und ich hätte mehr als vier Kutschen benötigt, um die Bücher mitzunehmen. Damit wäre ich auffällig wie eine Königin gewesen, und Aufmerksamkeit war in diesen Zeiten das Letzte, was ich benötigte.
»Ich nehme euch mit«, verspreche ich den standhaften unter den Büchern und sehe mich in dem Geländewagen bereits von ihnen begraben. Dabei bemerke ich, dass ich wie selbstverständlich annehme, dass ich den Kampf gegen Marek gewinne, und ich muss lächeln. Ich weiß, dass ich gewinne. Meine Instinkte warnen mich: Ich bin nicht länger allein. Ich spüre, dass die Luft um mich herum in Aufruhr geraten ist. Jemand bewegt sich durch die Bibliothek.
Von draußen vernehme ich das Knattern eines Motorrads, das sich der Mühle nähert. Noch ein Besucher, dem ich jedoch vorerst keine Aufmerksamkeit schenken darf.
Aus dem Augenwinkel habe ich eine Bewegung ausgemacht, und zwar neben dem letzten Regal, ganz hinten, wo die Schatten am tiefsten sind.
Langsam ziehe ich meinen Dolch und mache mich bereit. »Ich weiß, wie gerne du aus dem Hinterhalt angreifst, Marek«, sageich laut und gehe rückwärts. »Daraus wird nichts mehr. Ich habe dich gesehen.«
Ein Schatten bewegt sich und rast mit ausgestreckten Armen auf mich zu, das Fauchen, das zu hören ist, gleicht dem Zischen einer Schlange. Sofort bemerke ich meinen Fehler: Es ist nicht Marek, der mir aufgelauert hat. Es ist ein Umbra! Wie damals …
Weiß leuchten die Zähne in seinem Maul, und wie immer ist er nicht mehr als eine Silhouette, ein lebendig gewordener Schattenriss.
Ich werfe mich nach rechts, hechte durch ein Regal und schleudere die Bücher von ihrem Platz. Hinter mir wird es flammenhell, eine Lohe faucht durch den Gang. Ich spüre die Hitzewelle, die an mir vorüberrollt und mich ansonsten unversehrt lässt. Der feurige Atem des Umbra hat mich nicht erwischt, doch er wird es nicht bei diesem einen Angriff belassen.
Ich renne weiter, hechte durch das nächste Regal und höre das Zischeln des Upirs, der die Verfolgung aufgenommen hat.
Niemals hätte ich geglaubt, dass Marek sich auf die gleiche Stufe wie Carzic begibt und sich mit den niederen Wesen verbündet, um unsere sehr persönliche Feindschaft zu beenden! Damit hat er nun den letzten Rest von Ehre verloren.
Wieder faucht es hinter mir, und ich lasse mich hinter ein Regal fallen. Die Feuerwolke schiebt sich an mir vorbei, ein glühend heißer Wind streift mich – das war knapp!
Während ich zusammengekauert überlege, wie ich dem Umbra am schnellsten den Kopf abschlage, beginnt es zu hageln. Nussgroße Eisklumpen schießen aus dem Himmel, danach erklingt ein leises Donnergrollen.
Die Anzeichen kenne ich zu gut: Ein Vampir aus der Familie der Vieszcy ist in der
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