Kinder des Judas
auf die Suche nach langweiligen Pelzen begeben wollte. Das aufkommende schlechte Gewissen über seine Nachlässigkeit beruhigte er mit dem Entschluss, sofort aufzubrechen, sobald die Sachlage in Medvegia aufgeklärt war.
Beim Mittagessen sprachen er, Glaser und die Offiziere über den Fall.
»Ich bin inzwischen so weit, dass ich mir die Leichen der Verstorbenen ansehen möchte«, sagte Viktor. »Es gibt, wie mir der Pope beschrieb und ich in den Büchern gelesen habe, Anzeichen, wenn sich ein Toter in einen Vampir verwandelt hat.« Er sah gespannt zu dem Medicus, der schmatzend und schlürfend sein Mahl in sich hineinschaufelte. Wortlos schob Glaser ihmein Blatt hin. Viktor las: »Zu nächtlicher Zeit gehen die Bewohner von zwei, drei Häusern zusammen in eines, teils schlafen die einen, während die anderen wachen. Das Sterben wird auch nicht eher aufhören, bis nicht von einer Löblichen Obrigkeit nach selbsteigener Resolution eine Exekution denen benannten Vampires beschlossen und durchgeführt werde.« Er staunte über die furchtbare Wortwahl ebenso wie über den Umstand, dass Glaser die Seiten gewechselt hatte. Er
glaubte
plötzlich an die Wesen! »Was ist das?«
»Der erste Teil meines Berichts, den ich an D’Adorno nach Belgrad sende«, spuckte er mehr, als er sprach, und riss sich von dem Brot ab, um es in die Suppe zu tunken. Er ärgerte sich ohne Unterlass über Medvegia und seinen Auftrag, der die Grundfesten seines Weltbilds erschütterte.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Sätze klingen ein wenig …«
»Es ist ein Bericht. Berichte müssen so klingen.« Er drückte die Brotrinde in die Flüssigkeit. »Schauen wir uns die Leichen an. Danach schreibe ich weiter.«
»Jetzt sofort?«
»Will Er warten, bis ich es mir anders überlege?«
»Nein, natürlich nicht.« Viktor fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, etwas zu essen. Verwundungen zu sehen machte ihm nichts aus, doch verwesende Körper könnten ihm durchaus auf den Magen schlagen. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. »Sehr gut«, sagte er stattdessen und sah zu den Offizieren, deren Gesichtsfarbe sich ebenfalls verändert hatte.
»Er wird mir aber nicht wie eine Jungfrau zusammenbrechen und in die Grube fallen?«, vergewisserte sich Glaser.
»Nein, nein«, meinte Viktor sofort und langte nach dem Wasser, das einmal Schnee gewesen war. Er hatte es jedenfalls nicht vor.
Als sie sich nach dem Essen erhoben und vor das Haus traten, wurden sie von einer Menschenmenge erwartet.
»Es hat sich herumgesprochen, was geschehen soll«, befand Viktor und sah kurz zu Ignaz, der an ihnen vorbeiging und auf die Bewohner einredete. Die Leute beruhigten sich, die ernsten Mienen wurden freundlicher, hier und da brandete Applaus auf.
Glaser und die Offiziere schoben sich durch die Menge. »Wir brauchen Leute, die graben können«, ordnete er im Vorbeigehen an. »Sie sollen auf den Friedhof kommen.«
Viktor blieb an der Seite des Popen, dem sein Kirchendiener ein Ikonenbild gebracht hatte, das er nun trug. Es roch unglaublich streng nach Knoblauch und Gewürzen. Es gab niemanden in der Menschenansammlung, der sich kein Kreuz um den Hals gehängt hatte, manche trugen es sogar auf der Stirn, andere hatten sich einen zusätzlichen Rosenkranz auf den Rücken gehängt, damit sie von einem Vampir nicht hinterrücks angegriffen werden konnten.
»Die Menschen sind erleichtert, dass der Medicus endlich tut, was sie die ganze Zeit über schon verlangt haben«, übersetzte der Geistliche für Viktor. »Und auch ich bin sehr glücklich.«
»Das glaube ich gerne.« Viktor sah sich um, ob er vielleicht die geheimnisvolle Frau, die er im Fenster gesehen hatte, entdeckte. Es machte keinen Sinn, sie dem Geistlichen zu beschreiben. Er musste sie noch mal mit eigenen Augen sehen, was ihm in den letzten Tagen aber nicht vergönnt gewesen war. Medvegia war zwar nicht winzig, aber dennoch überschaubar. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich vor ihm so lange verbergen konnte. Er nahm an, dass sie sich wegen ihrer Neugier schämte, und verdrängte hartnäckig seinen anfänglichen Verdacht, dass sie nichts weiter als ein Traumgespinst war.
Die Prozession hatte den Friedhof erreicht. Es war ein mit einer kleinen Mauer umgebener Ort. Viktor sah die bekanntenlateinischen Kreuze seiner Heimat, allerdings auch Kreuze, bei denen Quer- und Längsbalken die gleiche Länge hatten und sich genau in der Mitte schnitten; eine weitere Variante trug drei ungleich lange
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