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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Gefühle drohen mich zu überwältigen.
    Es dauert eine ganze Weile, und der Wald lichtet sich. Mein Gesang endet. Ich sehe unter den tiefhängenden Ästen einer Fichte hindurch einen Hügel, auf dem sich die Ruinen eines Turms und eines kleineren Gebäudes vor dem Mond abheben.
    Ich bekreuzige mich. »Herr, steh mir bei«, bete ich. Was immer Marek sich ausgedacht hat, er soll nicht über mich siegen.
    Meine Füße versagen den Dienst, und sosehr ich ihnen auch befehle, die Anhöhe hinaufzusteigen, sie rühren sich nicht. Mein Verstand ist gefangen von dem Anblick, der sich mir dort malerisch und drohend zugleich darbietet.
    Es ist der Ort, an dem alles anfing: mein Aufstieg und mein Fall, der endgültige Bruch mit der Cognatio. Der Mond bescheint die Überreste, die sich tapfer gehalten haben. Wie viele Jahre tragen diese Grundmauern, die dem großen Brand damals getrotzt haben, auf dem Rücken? Vierhundert? Fünfhundert?
    Steine und Mörtel wurden von der Zeit besiegt, und ich sehe nur das untere Drittel des Turms rebellisch aufragen. Der obere Teil, die Flügel und Rahmen, sind vergangen. Die Scheune hat den größten Teil ihres Dachstuhls eingebüßt, eingebrochen unter der großen Last des Schnees und der Zeit.
    »Wie alt ich bin«, sage ich zu mir selbst und erschrecke beim Klang meiner normalen Sprechstimme, die mir verbraucht und dünn vorkommt. Der Schreck reicht aus, um mich aus der Bewegungslosigkeit zu reißen.
    Ich erklimme die Anhöhe und bin merkwürdig ruhig. Vor mir sind die drei schiefen Eingangsstufen, die zur Tür der Mühle führen. Das Holz sieht im Mondlicht aus, als sei es gestern erst abgehobelt und gestrichen worden, nur die rostigen Beschläge und die abgeplatzte Farbe zeigen mir, dass ich mich täusche. Der Ort ist schon lange Zeit verlassen und vergessen. Kein Wunder in den modernen Zeiten.
    Es bedarf einiger Überwindung, bis ich hinaufsteige und die Hand auf die schneebedeckte Klinke lege.
    Natürlich lässt sie sich nicht nach unten drücken, also nutze ich mehr von meiner Kraft – bis das Eisen zerbricht und ich den Griff in den Fingern halte.
    Seufzend ramme ich die Schulter gegen die Tür, aber sie hält stand. Wenn die Riegel von innen vorgeschoben sind, werde ich nicht eindringen können. Ich versuche es ein zweites Mal, und endlich, sie ergibt sich. Ich muss zwei Ausfallschritte machen, um meinen Schwung abzufangen, und dringe so in die Mühle ein.
    Der Geruch! Der Geruch aus meiner Kindheit hängt noch immer in den Wänden, die Steine haben nicht vergessen, was sich im Untergeschoss zugetragen hat, und geben mir mit ihren Ausdünstungen noch mehr Erinnerungen zurück.
    »Herr im Himmel«, entfährt es mir, und ich gehe an den zerfallenen Möbeln vorbei zum Herd. Die Handgriffe sitzen, ich schiebe die Feuerklappe zur Seite und lege die eiserne Kuhle frei, in der einst das Feuer loderte.
    Gäbe es ein besseres Zeichen für Marek?
    Ich raffe etwas von dem Brennholz zusammen, das neben dem Herd liegt. Es ist federleicht, manche Scheite zerfallen zu Staub und Sägemehl. Mit dem Feuerzeug entfache ich die Flamme, und sofort schlagen kleine Lohen in die Höhe; rasch schiebe ich die Abdeckung darüber und weiche einen Schritt zurück.
    Erst jetzt drehe ich mich um und betrachte weiter den runden Raum. Ich versuche, den Mechanismus für die Bodenluke zu aktivieren, aber ohne die Kraft des Windes und des Mühlenantriebs tut sich nichts. Es ist besser so.
    Die Tür war nicht richtig verriegelt, wie ich jetzt erkenne, und die Bolzen sind durch meine Versuche aus den Halterungen gerutscht. Von dieser Seite sieht sie stark und unzerstörbar aus, wie in den Jahren, als ich hier wohnte.
    Heller Schein dringt aus den Fugen zwischen den Bauteilen des Herdes und beleuchtet den Raum etwas, Wärme breitet sich aus und schiebt sich langsam bis in die letzte Ecke. Das sich aufheizende Eisen tickt und pocht leise; sofort wird es wohnlicher.
    Ich ziehe ein paar Kerzen aus meinem Rucksack und entzünde sie, stelle sie an die Fenster, damit Marek sieht, wo ich zu finden bin. Ich fürchte mich nicht vor ihm und freue mich auf das Zusammentreffen, das mit seinem Tod enden wird. Ich hätte ihn damals schon umbringen sollen. Nach wie vor will mir nicht einleuchten, weswegen er mich durch halb Europa gehetzt hat. Diese Art von Nostalgie passt nicht zu ihm.
    Mein Blick fällt auf die Steintreppe. In welchem Zustand sich das Stockwerk darüber wohl befindet?
    Stufe um Stufe steige ich das Halbrund hinauf und

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