Kinder des Judas
Nähe und bereitet seinen Auftritt vor. Noch zeigt er sich nicht offen, er wird auf eine gute Gelegenheit warten, um mich anzugreifen, denn es ist unwahrscheinlich,dass er auf einen Plausch vorbeigekommen ist. Damit stehe ich allein gegen zwei sehr unterschiedliche Gegner: der eine von einem Dämon wegen seiner Taten zum Umbra gemacht, der andere als Kind einer Hexe und eines Dämons geboren.
Das Röhren des Motorrads erklingt nun absolut nah, gleich darauf endet es. Der nächste Besucher ist angekommen. Bevor er sich in den Kampf einmischen kann, möchte ich wenigstens eine Gefahr ausgeschaltet wissen.
Ich springe auf, katapultiere mich auf das nächste Regal und halte Ausschau nach dem Umbra, der in den Schatten unsichtbar ist. Diese Wesen kennen ihre Stärken sehr genau.
Flüchtig kommt mir der Gedanke, dass Marek es womöglich nicht nur bei diesen beiden Vampiren belassen hat. Er besitzt vielleicht doch eine ungefähre Vorstellung von dem, was er durch das Massaker in mir zum Leben erweckt hat, und dass ich wieder meine alten Fertigkeiten besitze, die ich mit der Kraft des Menschenbluts speiste. Jetzt, wo ich wie eine Katze auf dem Regal sitze, muss ich mich selbst an sie erinnern, weil ich sie zu lange nicht mehr eingesetzt habe. Es gab bislang keinen Grund. Wenn man etwas länger als sechzig Jahre nicht benutzt hat, ist es stark eingerostet. Es fällt mir nicht leicht, sie tief in mir zu wecken – oder ist es eher die Furcht davor, dass es mir sehr gut gefallen könnte, die alten Schranken einzureißen und wieder zu einem wahren Judaskind zu werden?
Der Umbra erscheint am Fuß des Regals und reißt den Mund auf. Es bleibt mir keine Zeit, den Rost vom Wissen abzuschütteln, es muss auf Anhieb funktionieren oder ich zerfalle zu Asche. Ein Schicksal, das ich eigentlich Marek zugedacht habe.
Das Gewitter ist rasch aufgezogen, der Hagel intensiviert sich.
»Verzeih mir, Herr«, raune ich und konzentriere mich, um das Tor zu meiner eigenen Finsternis aufzustoßen und sie herauszulassen.Ich bin wieder eine Aeterna, eine von ihnen … Noch ein Grund mehr, Marek auszulöschen.
Ich strecke die geöffnete linke Hand gegen den wolkenverhangenen Himmel und zwinge den Elementen stumm meinen Willen auf. Meine Kräfte schnellen unsichtbar in die Höhe, suchen in den Wolken nach den sich aufstauenden Energien und locken sie. Es ist, als würde man daraus viele einzelne Fasern lösen und sie zu einem dicken Strick drehen, was mir eine gewaltige Konzentration abverlangt. Sobald mir
eine
Faser entgleitet, verpufft die Energie unterhalb der Wolkendecke in einem schön anzusehenden, doch nutzlosen Wetterleuchten. Hinzu kommt, dass mir für den Vorgang nicht mehr als ein oder zwei Sekunden bleiben. Nicht meine leichteste Disziplin – dennoch gelingt es mir!
Der niederzuckende Blitz folgt meinem Befehl. Knisternd schlägt er einen Haken und schießt an meinem Gesicht vorbei nach unten – genau in den Umbra.
Ein dumpfes Bersten ertönt, als die grellweiße Bahn in den emporschnellenden Vampirschatten fährt und ihn zerreißt. Er wird zerfetzt und gekocht gleichermaßen, heißes Blut spritzt umher und schmilzt zischend den Schnee.
Ich atme schnell, stoßweise, und mein Herz schlägt einen Takt, den ich zu vergessen geglaubt hatte. Mein Gott, wie überwältigend! Wie überwältigend es ist, der Natur zu befehlen und sie zu leiten! Euphorisiert erhebe ich mich auf meinem Regal und befehle dem Hagel innezuhalten. »Marek!«, schreie ich in die Nacht. »Marek, wo steckst du? Komm her, damit ich dir geben kann, was du verdient hast!«
Unter mir erscheint eine Gestalt, eine Frau, welche die Kleidung einer Bäuerin trägt und von der ein unglaublicher Gestank ausgeht, als habe sie in Eiter und dem Ausfluss schwärender Wunden gebadet. Ich nehme nicht an, dass sie es ist, die mit dem Motorrad gekommen ist.
»Noch einer von ihnen«, krächzt sie. »Dachte ich es mir! Wo einer ist, sind auch die anderen!« Sie hebt den Kopf und sieht mich an, aus den Augen rinnt zähes, gelblich rotes Blut. Zwischen den zerfetzten Lippen stehen lange, nadelartige Zähne hervor. Sie haucht eine dunkle Wolke aus ihrem Schlund gegen mich, und ich muss an schwarze Pilzsporen denken.
Der Gestank ist unbeschreiblich. Die Frau ist ebenfalls eine Vampirin, eine von der Art der Nex. Hätte ihr fauliger Atem einen Menschen getroffen, wäre er von einer furchtbaren Krankheit befallen worden. Früher haben die Nex die Pest beschworen, um ganze Landstriche zu
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