Kinder des Judas
des faulenden Fleisches sowie den Gestank des verrottenden Blutes, und erst als er alles Zeile für Zeile vor sich liegen hatte, fühlte er sich befreiter.
Libor kehrte zurück. Er hatte seinen Panzer abgelegt und gegen ein dunkelrotes Hemd eingetauscht, ein weiter Mantel lag um seine Schultern, und die Kosakenmütze saß verwegen schief auf seinem Haupt. »Niemez, Sie schreiben ja schon wieder. So berühmt wollte ich gar nicht werden.« Rasch nahm er die Blätter an sich und legte sie auf ein Kissen. »Das genügt für den heutigen Tag. Sie werden im Dorf erwartet. Es gibt leckere Sachen zu essen, und da es mich nichts kostet, werden wir alle fressen, wie wir es schon lange nicht mehr getan haben.«
Der Gedanke an dampfendes Fleisch ließ Viktors Übelkeit schlagartig zurückkehren. »Du kannst nach diesem Anblick essen?«
»Immer.« Libor lachte. »Was nutzt ein Dhampir, wenn erschwach ist?« Er ging quer durchs Zelt. »Wir warten draußen auf Sie.«
Zuerst hatte Viktor den Besuch ablehnen wollen, doch letztlich dachte er sich, dass er dadurch mehr über die Traditionen der Menschen erfahren konnte. Gleichzeitig ärgerte es ihn, dass er unentwegt auf die Übersetzungskünste des Zingaro angewiesen war. Er beschloss, bei ihm Unterricht zu nehmen und sich wenigstens ein paar wichtige Brocken Türkisch beibringen zu lassen. Es war die Amtssprache hier gewesen, und die meisten der Älteren im Land beherrschten sie neben ihrer eigenen. Ansonsten gab es hier viel zu viele unterschiedliche Sprachen.
Er beließ es dabei, sich die Hände und das Gesicht mit kaltem Wasser und Seife zu waschen, dann ging er zu Libor.
Gemeinsam machten sie sich auf zum Dorf; durch die Ritzen der größten Scheune fiel helles Licht. Libor hatte die Sippe angewiesen, das Tamburin, zwei Schalmeien und eine Geige mitzunehmen, um für die passende Musik für diesen fröhlichen Anlass zu sorgen.
Als sie das Innere betraten, wurde rasch klar, dass die Zingaros an einem eigenen Tisch saßen, abgetrennt von den Dörflern.
»Man lädt uns ein, will aber eigentlich nichts mit uns zu tun haben«, meinte Libor und wirkte kein bisschen gekränkt, während Viktor sich über die Unhöflichkeit aufzuregen drohte. Aber er war sich des Standes der Zingaros bewusst; auch in der Lausitz wurde das fahrende Volk nur am Rand der Städte und Dörfer geduldet.
»Dafür, dass ihr ihnen eine Menge Tote erspart habt, könnten sie etwas mehr Freundlichkeit zeigen«, murmelte er und setzte sich neben Libor. »Sprichst du Türkisch? Ich bräuchte jemanden, der es mich lehrt, damit ich mich mit den Menschen unterhalten kann, wenn du nicht in meiner Nähe bist.«
Libor willigte ein. Bevor sie sich jedoch weiter darüber unterhaltenkonnten, begann das Mahl. Auch wenn es noch so verführerisch duftete und für die bäuerlich-ärmlichen Verhältnisse reichlich war, brachte Viktor keinen Bissen herunter. Noch immer waren die Bilder der halbverzehrten Vampirin zu gegenwärtig.
Erst nach drei Branntweinen lockerte er sich etwas. Bald begannen die Zingaros mit ihrer Unterhaltung, und zwei jüngere Frauen stiegen auf die Tische, um zu tanzen. Das wiederum ließen sich die Dörfler gefallen.
Pfeifen wurden angezündet; Viktor lehnte diejenige, welche ihm angeboten wurde, ab. Er war sich bewusst, dass hier Opium geraucht wurde, und wollte seine Sinne so gut wie möglich bei sich behalten.
Der Rhythmussturm, den die Musikanten entfachten, ließ keinen der Anwesenden ruhig an seinen Platz verweilen. Angeleitet von wilden Melodien und schnellem Takt, wurde in der Scheune nun getanzt. Viktor verhielt sich auch hierbei wie ein Beobachter, obwohl er durchaus Lust verspürte, sich in das bunte Treiben zu wagen; allerdings erlaubte sein Knie es ihm nicht.
Eine jüngere Frau, die ein einfaches, dickes Winterkleid mit einer Stola aus warmer Wolle angelegt hatte, näherte sich ihm und streckte die Hände nach ihm aus. Sie war hübscher als jede andere anzuschauen und besaß eine enorme Ausstrahlung. Blondes Haar schaute unter ihrer Haube hervor. »Kommen«, sagte sie in schlechtem Deutsch. »Hüpfen?«
»Tanzen«, verbesserte er sie und spürte eine große Erleichterung, dass sie ihn verstand. Libor befand sich irgendwo in dem Trubel, denn im Rausch des Alkohols lockerten sich die Schranken zwischen den Zingaros und den Bewohnern zusehends. Er fragte sich, wie ein derart schönes, anmutiges Mädchen in einem solchen Dorf zur Welt kommen konnte. Woanders wäre sie mit ihrem Äußeren
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